Die re:publica versteht sich als „einer der weltweit wichtigsten Events zu den Themen der digitalen Gesellschaft“. Das Programm setzt sich aus Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops zusammen.
Technologie für alle funktioniert nur, wenn wir voneinander lernen und Menschen mit Behinderungen zuhören. Das sagt Tom Bieling, Panel-Speaker in unserer Session„Inklusion/Exklusion: Eine Frage der Technik?“. Der Designforscher lehrt an der Berliner Universität der Künste. Im Design Research Lab hat er mit seinem Team einen Sensor-Handschuh entwickelt, mit dem taubblinde Menschen auch auf Distanz „lormen“ können. Das Tastalphabet funktioniert ansonsten nur bei physischer Anwesenheit des Gesprächspartners. Interessant ist seine Feststellung, dass Design auch Behinderung designt. Auf Nachfrage aus dem Publikum verweist er auf die Brille: Das Design der Brille zeugt von dem Umgang mit der Sehschwäche. Man kann sie mit Kontaktlinsen zum Verschwinden bringen, ein unauffälliges Gestell wählen oder aber bewusst eine auffällige Brille tragen.
Gesetzliche Regelungen für barrierefreie Webseiten?
Eine weitere Panel-Speakerin ist Katja Fischer, Hochschuldozentin und Trainerin für Deaf Studies und Gebärdensprachdolmetschen. Selbst gehörlos, macht sie auf den Aspekt aufmerksam, dass Gehörlose oftmals Treiber von Technologien sind, etwa von SMS oder Skype. Die Gruppe der Gehörlosen umfasst allein in Deutschland über 15 Millionen Menschen. Und nicht allein deshalb lohnt es sich, Technologie für alle zu denken, meint Katja Fischer. In einer zunehmend alternden Gesellschaft komme diesem Thema ohnehin eine immer größere Bedeutung zu. Hier können alle voneinander lernen und von Vielfalt und unterschiedlichen Erfahrungen profitieren. Gesetzliche Regelungen könnten dabei hilfreich sein, bemerkt Katja Fischer auf eine Frage aus dem Publikum, wie man Achtsamkeit und Dringlichkeit etwa für barrierefreie Webseiten erzeugen könne. Richtlinien allein würden oft als nicht zwingend wahrgenommen.
Wer entscheidet, was „normal“ ist?
„Eine scheinbar wissenschaftliche Methodik verändert die Behandlung und Wahrnehmung von Menschen. Das ist rationale Diskriminierung.“ Unsere zweite Diskussionsrunde hat das Thema „Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft“. Der Soziologe Stefan Selke beschäftigt sich mit der digitalen Selbstverbesserung und Selbstvermessung des Menschen etwa durch Fitnessarmbänder, Gesundheits-Apps und Smartwatches. Dies seien Technologien, die Werte und Kultur verändern – und zwar nicht in einem positiven Sinne.
Indem mithilfe von vermeintlich objektiven Kennzahlen definiert wird, was „normal“ oder „richtig“ ist, wird eine gesteigerte Sensibilität für Abweichungen von dieser Norm erzeugt. Abweichungen werden als „fehlerhaft“ wahrgenommen. Als Beispiele führte Selke etwa die Leistungsvergleiche am Arbeitsplatz, das Prämiensystem im Gesundheitsbereich oder das Punktesystem in der Bildung an. Selkes These: Die Selbstvermessung und die Auswertung dieser Daten durch andere führt zu einer verflachten Vorstellung und zu einer Entpersönlichung des Menschen, der künftig aktiv beweisen muss, dass er nützlich und „normal“ ist.
Individualität der Menschen wertschätzen
Dieser pessimistischen Ansicht schließen sich Christiane Link, Jeanette Gusko (change.org) und Katja de Bragança (u.a. Gründerin des Magazins Ohrenkuss) nicht an. Sie denken, das Sammeln von Informationen kann das Leben von Menschen mit Behinderung durchaus vereinfachen. Christiane Link erzählt beispielsweise, dass sie Foursquare nutzt, um anhand der Bewegungsprofile anderer Rollstuhlfahrer ihre Reisen besser zu planen. Dennoch sei wichtig, dass die Individualität der Menschen dabei nicht in den Hintergrund tritt und jeder Einzelne wertgeschätzt wird, so wie er ist. Gleichmacherei mithilfe von Technologie kann kein Weg sein – darin sind sich alle einig.
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(Wibke Ladwig)