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Selbstbewusstsein durch Sport

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Rollstuhlbasketballer kämpfen auf dem Spielfeld um den Ball

Im Teamsport ist Behinderung kein Grund für Entgegenkommen, Nachsicht oder Mitleid. Michael Herold über seine ganz eigenen Erfahrungen mit Sport.

"Kannst du nicht normal laufen?" Nichts hat mich als Kind unsicherer gemacht, als mit Kindern zu spielen, die mich nicht kannten. Im Urlaub vielleicht, oder in einer neuen Schule. Ich wusste nicht, wie ich es neuen Bekanntschaften erklären könnte. Oder ob ich es überhaupt sollte. "Hallo, ich bin Michael. Ich bin behindert, deshalb kann ich das nicht so gut." - Das würde gar nicht gehen. Nicht in einer Zeit, in der man etwas Schlechtes oder nicht Funktionierendes pauschal als "behindert" titulierte.

Behindert zu sein, das ging nicht

Überhaupt schien das Wort nur Schlechtes zu sein: Ein Unfall auf der Autobahn führte zu 'Behinderungen' und Stau. Nein, behindert zu sein, das ging nicht. Also
lieber die Klappe halten und einfach mitspielen. Das ging dann genau so lange gut, bis das erste Kennenlernen abgeschlossen war und jemand vorschlug, Fangen zu spielen. Oder Klettern. Oder Ball. Und schon war der Neue der Untergang für das Team, das naiv genug war, ihn in seine Reihen aufzunehmen. "Kannst du nicht rennen?" "Warum fällst du ständig hin!" "Stell dich nicht so dumm an!"

Was Sport und andere körperliche Aktivitäten in der Gruppe anging, da war sehr schnell der Schlussstrich für mich gezogen. Bevor ich mir so etwas noch mal anhören musste, hatte ich mich lieber Ausreden murmelnd aus dem Staub gemacht. Sobald das erste Spiel vorgeschlagen wurde, bei dem ich nicht mithalten konnte, war ich weg. Und so ließ ich den Sport weit hinter mir zurück, ein kleiner, dunkler, rauchender Punkt am Horizont meiner Kindheit.

Eine Sache der Denkweise

Dabei hätten wir uns so viel zu geben gehabt, der Sport und ich. Hätten wir uns nur unter anderen Bedingungen kennen gelernt. Es ist eine Sache der Denkweise. Leider hatte ich die falsche Seite der Medaille präsentiert bekommen. Zwei Jahrzehnte später bin ich der Meinung, dass es wenig gibt, das einem Menschen mit Behinderung schneller Selbstbewusstsein verschafft, als eine geeignete Team-Sportart.

Denkt mal drüber nach: Man hat eine ganze Mannschaft hinter sich, alle in der gleichen körperlichen Situation - keiner ist anders gestellt oder in seiner Situation unverstanden. Alle ziehen am gleichen Strang, verfolgen das gleiche Ziel. Auf der anderen Seite: der Gegner, und auch hier wieder genau das gleiche Bild. Da wird es unmöglich zu denken, man könne nicht, oder man stünde seltsam heraus. Dass vielleicht jemand komisch schaut. Oder sich lustig macht. Stattdessen gibt man sein Bestes. Und spielt. Und das in einer eigentlich extremen Situation: Der Wettkampfcharakter des Sports bedeutet, dass jegliche körperliche oder geistige Schwäche vollkommen offen gelegt wird. Mehr als irgendwo sonst. Gegenspieler werden keine Rücksicht nehmen auf den, der nicht so gut kann. Ganz im Gegenteil - sie werden jede noch so kleine Schwachstelle ausnutzen. Und das alles vor den Reihen der gefüllten Publikumstribünen, den wachsamen Augen der Zuschauerschaft.

Für die Spieldauer ist unser Leben so, wie wir es uns wünschen

Für die Dauer des Spiels ist die Behinderung kein Grund für Entgegenkommen, Nachsicht oder gar Mitleid mehr. Sie ist aber auch keine Einschränkung mehr gegenüber anderen. Für die Spieldauer ist unser Leben für kurze Zeit so, wie wir es uns für den Rest der Zeit wünschen.

Die Bedingungen sind ideal, ein positives Selbstbewusstsein - zumindest was die
Behinderung angeht - aufzubauen. Die eigentlich härtesten denkbaren
Rahmenbedingungen - aber mit einem strahlenden Vorteil: umgeben von einer ganzen Mannschaft in genau der gleichen Situation, die alle nur das Beste für einen selbst wollen. Denn das Team ist nur so stark wie der schwächste Spieler. Damit liegt es schon im Eigeninteresse des Teams, die schwächsten Spieler zu stützen und nach besten Möglichkeiten zu helfen.

Im Team muss man sein Bestes geben, es gibt keine Ausreden auf dem Spielfeld. Kein "Heute mag ich nicht". Denn das schuldet man seiner Mannschaft. Und so ist der Schritt auf das Spielfeld auch der erste Schritt auf die Theaterbühne des Dramas Selbstbewusstsein: Man zeigt seine Behinderung, legt jegliche Schwäche bloß, und gibt das Beste für sein Team. Für die, die körperlich mithalten können, gilt das Gleiche im Übrigen auch für Sport mit Nichtbehinderten: Der Aspekt der Gleichartigkeit geht hier zwar flöten, der Rest gilt aber genauso.

Routine, Technik und Einsatz trumpfen das Mysterium "Talent"

Das soll nicht heißen, dass sich jeder gleich am Boardercross Snowboarden, Rollstuhlskaten oder Wasserski versuchen muss. Es sollte eine Sportart sein, zu der man körperlich auch - wenn nicht unbedingt prädestiniert - dann doch zumindest in der Lage sein sollte. Sonst findet man sich unter Umständen zu oft auf der Ersatzbank. Aber Routine, Technik und Einsatz trumpfen das Mysterium "Talent" in neun von zehn Fällen.

Wer geht aus so einem Spiel heraus, egal ob gewonnen oder verloren, und legt mit dem Trikot auch die Selbstverständlichkeit der eigenen Behinderung ab? Niemand. Vielleicht nicht gleich nach dem ersten Spiel. Aber mit der Routine kommt das Verständnis. Was sind eure Erfahrungen mit Sport? Welchen habt ihr gewählt, oder würdet ihr wählen?


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(Autor: Michael Herold)


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