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Auf dem Sprungbrett zur eigenen Wohnung

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Ein Mann trägt einen Eimer in einer Küche

Eine Mitbewohnerin will ausziehen? Kein schlechtes Zeichen in der Wohngemeinschaft von sechs Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung der DRK Behindertenwerkstätten gGmbH in Potsdam-Drewitz. Dass die 22-jährige Josephine Riek in eine eigene Wohnung umziehen will, beweist, dass die WG ihren Zweck erfüllt: Hier zieht man ein, um gestärkt wieder auszuziehen - ins selbstbestimmte, ambulant betreute Wohnen.

Das DRK bot in Potsdam lange Zeit nur eine vollstationäre Wohnstätte und ambulant betreutes Wohnen an. "Wir haben aber die Erfahrung gemacht, dass der Schritt von der einen in die andere Wohnform für viele zu groß ist", erklärt die Bereichsleiterin Wohnen, Manuela Paul. "Die teilstationäre WG ist das Angebot dazwischen." Zwei Mitarbeiter stehen den Bewohnern abwechselnd von nachmittags bis abends für alle Fragen zur Verfügung. Sie wollen in ihnen das Zutrauen wecken, eigenständig wohnen zu können.

Gestärkt für einen neuen Versuch

Josephine Riek fühlt sich inzwischen so gestärkt, dass sie im Mai ins ambulant betreute Wohnen umziehen möchte. Bis dahin bleibt noch einiges zu üben: aufräumen, sauber machen und vor allem, sich Termine einzuprägen und sie nicht doppelt zu belegen, wie ihr das oft passiert. Sie ist im Heim großgeworden und versuchte mit 18 Jahren schon einmal, alleine zu wohnen. Es gelang nicht. "Ich war damals total überfordert mit mir selber und mit dem Umfeld", berichtet die 22-Jährige. Nach einem Intermezzo in der vollstationären DRK-Wohnstätte zog sie 2012 in die neu gegründete WG ein, die ihr Domizil in einem mit einer 110.000-Euro-Förderung der Aktion Mensch sanierten, ehemaligen Zweifamilienhaus in Alt-Drewitz fand.
Hier sitzt sie am Küchentisch, dem zentralen WG-Kommunikationsort, und erinnert sich an die erste Zeit, als die vier Männer und die drei Frauen zwischen 22 und 38 Jahren sich als Gruppe zusammenraufen mussten. "Ich habe mich schnell wohlgefühlt", erzählt die stille Frau. "In der eigenen Wohnung ist man ziemlich einsam und auf sich selber gestellt. Hier habe ich einen fachlichen Ansprechpartner und Freunde um mich herum." Ein Bewohner zog wieder aus, sein Zimmer unter dem Dach steht seitdem leer. Die übrigen sechs lernten, das Zusammenleben zu genießen.

Vom WG-Leben begeistert

Einer von ihnen ist Thomas Lehmann, der in der Metallverarbeitung in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeitet. Der 38-Jährige stammt aus einer Potsdamer Familie mit zehn Kindern und hat eine geistige Behinderung. "Lesen kann ich nicht, und Schreiben und Rechnen funktionieren auch nicht so richtig", erklärt Lehmann. Nachdem er bei seinen Eltern ausgezogen war, lebte er zunächst in einer vollstationären Wohnstätte und wechselte dann in die WG. Er mag das Leben hier. Sogar die Pflichten, die alle im Haushalt übernehmen. "Ich mache die Nachbereitung beim Tischdienst. Räume alles weg, sauge durch, wische, schalte den Geschirrspüler an und mache die Kaffeemaschine fertig für den nächsten Tag", erzählt der aufgeschlossene 38-Jährige. Montags, wenn alle zusammen das Haus sauber machen, ist es sein Job, alle Türen und Türklinken abzuwischen.
Morgens gehen die WG-Mitglieder getrennt ihrer Wege zur Werkstatt, gegen 15.30 Uhr schwirren alle wieder ein - und viele gleich wieder aus, zu Freunden, zum Sport, zu Arztbesuchen. "Jeder macht sein eigenes Ding", erzählt Josephine Rieck. Sie zieht sich nach getaner Arbeit in der Metallverarbeitung oder der Garten- und Landschaftspflege gerne zurück, schläft oder chattet bei Jappy. Thomas Lehmann dagegen geht jeden Dienstag Schwimmen, tanzt einmal im Monat in der Disco für Menschen mit Behinderung zu Schlager und Techno, besucht mit seiner Freundin ein Café, oder es zieht ihn raus in die Grünanlagen.

Ritual mit Bollerwagen

Egal, wie sie sonst ihre Freizeit verbringen: Wenn einmal die Woche der gemeinsame Großeinkauf von Lebensmitteln angesagt ist, zu dem sie einen hölzernen Bollerwagen mitnehmen, gehen alle mit. Das ist ein WG-Ritual, ebenso wie der gemeinsame Hausputz am Montag oder das Kochen am Wochenende. "Also, ich fühl mich wohl", sagt Thomas Lehmann fröhlich. Hier könne er selber entscheiden, was er möchte und was nicht. "So schnell will ich nicht ausziehen!" Bis er auf eigenen Füßen stehen könne, gebe es erst noch viel für ihn zu lernen, beispielsweise, wie er mit den Herd bedienen kann. Auch Josephine Rieck fällt der Auszug nicht leicht. "Die anderen sind meine Freunde geworden", erzählt sie. "Vielleicht bricht ja der Kontakt ab." Die junge Frau zuckt mit den Schultern: "Aber es ist schön, dass man einen Schritt weiter geht. Das ist halt einfach, was ich möchte."


Das neue Förderprogramm Wohnen setzt auf kleine Wohnangebote bis acht Plätze und will Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringen. Das ausführliche Programm mit Wohnbeispielen und ergänzenden Interviews liefert die neue Förderbroschüre "Gemeinsam wohnen".


Linktipps:
Die DRK Behindertenwerkstätten gGmbH in Potsdam
Die Förderbroschüre "Gemeinsam wohnen": Das Förderprogramm Wohnen der Aktion Mensch
Wir fördern Ihr Projekt! Alle Infos rund um die Förderung in der großen Förderbroschüre der Aktion Mensch

(Autor: Carmen Molitor)


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