
Inklusion auf den Kopf gestellt: Nicht der Blinde versucht am gesellschaftlichen Leben der "Sehenden" teilzunehmen, indem er sich mit vorhandenen Barrieren arrangiert oder diese umgeht. Sondern der Sehende taucht ein in die Welt der Blinden und erlebt, wie es ist, blind zu sein. "Blindwalk" heißt die Stadtführung im Herzen Kölns, bei der Sehende mit verbundenen Augen die Domstadt erkunden. Und dabei ihre Sinne schärfen.
Als Blinder in einer Großstadt unterwegs zu sein: Ich wollte schon immer mal wissen, wie sich das anfühlt und anhört. Aber einfach Augen zu und durch? Zu so viel Abenteuer konnte ich mich dann doch nie durchringen. Schließlich ist solch ein Blindflug im Selbstversuch nicht gerade ein Spaziergang. Die Mitmenschen bringen wenig Verständnis auf für einen "Verrückten", der mit geschlossenen Augen Passanten und Hydranten anrempelt. Da kam der geführte Kölner "Blindwalk" gerade richtig. Mit fachkundiger Begleitung lässt sich nicht nur das Areal rund um den Kölner Dom sowie dessen Geschichte und Gegenwart neu entdecken. Die Gefahr, unter die Räder zu kommen, ist ungleich geringer.
Angst, beklaut zu werden
Also, hier bin ich: Samstagnachmittag zwischen Hauptbahnhof und Dom. Die Stadt pulsiert. Überall Menschen, Menschen, Menschen. Ich gebe mich in die Obhut meiner "Blindenführerin" Katharina, beziehungsweise hänge mich an ihren Rucksack. Meine neue Barriere heißt Augenbinde. Gerade noch Sonnenschein und tausend Farben, jetzt ist alles dunkel. Das Gehen kommt mir ungewohnt vor. Ich habe Probleme, mein Gleichgewicht zu halten. Ein bisschen so, als hätte ich ein, zwei Kölsch zu viel getrunken. Meine Tasche, mit Geldbeutel und Handy, die ich normalerweise lässig nach hinten baumelnd über der Schulter trage, halte ich vor meiner Brust. Ich bin ganz plötzlich misstrauisch geworden, habe Angst, dass mich jemand beklauen könnte.
Sie riecht nach Mittelalter
Die Geräuschkulisse am Bahnhof ist kolossal, wie in einem Hollywood-Monumentalfilm à la Ben Hur. Beängstigend und faszinierend zugleich. Ein mächtiger, bunter Eintopf aus leisen und lauten Tönen, Lärm, Geplapper, Maschinendröhnen, aufheulenden Motoren, Hupen und zu Boden fallenden Geldstücken.
Plötzlich eine neue Welt, eine völlig veränderte Akustik. Wir haben den Dom betreten. Nichts sehe ich von der Riesenkathedrale, aber ich kann sie riechen. Sie riecht – ja, sie riecht nach Mittelalter. Rauchig, vielleicht ein wenig faulig, aber trotzdem irgendwie gut. Bis mir der Parfümgeruch einer dicht an mir vorbeieilenden Dame in die Nasenlöcher strömt.
Die Hohe Straße, eine der Top-10-Einkaufsmeilen in Deutschland, ist gerammelt voll an diesem Sommertag. Zwar versichert Führerin Katharina, dass sich die Menschenmenge vor ihr teile wie das Rote Meer vor Moses, dennoch ramme ich zweimal mit Passanten zusammen. Ich kann nicht sehen, wie die Person, mit der ich zusammengeprallt bin, aussieht, wie sie reagiert. Weiß nicht, ob ich schuld bin am Zusammenstoß oder die Gegenpartei. Eine Entschuldigung bleibt in beiden Fällen aus, was mich zusätzlich verunsichert.
Wie beim ersten Mal
Wir gehen über eine holprige alte Römerstraße. Das Kopfsteinpflaster, das mir sonst so gut gefällt, kann auf dieser Tour nicht zu meinem Freund werden. Hoffentlich knicke ich nicht um, denke ich mir. Vor dem Römisch-Germanischen Museum, beim Befühlen der alten Steinskulpturen, werden wir von Jugendlichen angesprochen. Sie erkundigen sich höflich, fast ein wenig schüchtern, was wir denn da machen und ob sie vielleicht auch an solch einer Führung teilnehmen dürfen. Als wir weiter ziehen, erklärt Katharina, dass es sich um ein kleines Grüppchen junger Punks gehandelt habe. Hätte ich jetzt nicht gedacht! Zum Abschluss des Rundgangs gibt es ein Picknick im Dunkeln. Ich fühle die schöne Form der Weintrauben, ihre glatte Haut, erkenne Tomaten an ihrem Geschmack und erlebe das Ei-Pellen, als wäre es das erste Mal.
Ein Meer an Eindrücken
Der "Blindwalk" war für mich eine sehr interessante Erfahrung. Mir ist klar geworden, wie selektiv meine Wahrnehmung als Sehender ist. Sie ist einseitig, weil sie sich in hohem Maße auf die sichtbaren Erscheinungen beschränkt. Nur ein geringer Teil meiner Aufmerksamkeit bleibt für die Vielfalt der akustischen und sensorischen Möglichkeiten übrig. Allein die Fülle der Geräusche – Gesprächsfetzen in verschiedenen Sprachen, Lachen, Kindergeschrei, Musik –, all das war mir plötzlich ein Meer an Eindrücken. Fühlen, Hören, Riechen und Schmecken: Welt und Wirklichkeit haben so viel mehr zu bieten, als "wir Sehenden" zu wissen glauben.
Und doch, am Ende der Führung, als das fehlende Licht fast schon zur Gewohnheit geworden ist, bin ich froh, die Augenbinde wieder abnehmen zu können und um eine Erfahrung reicher geworden zu sein.
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(Autor: Ulrich Steilen)