
Sibylla von der Recke-Voelkel und Ansgar Voelkel planen den Durchbruch. Sie leben in der Lebensgemeinschaft Eichhof, einem Dorf im Bergischen Land bei Much, in dem 120 Erwachsene mit geistiger Behinderung ihr Zuhause haben - zwölf grün bewachsene Holzhäuser, Wald und grasende Kühe am Ortsrand inklusive. Die Aktion Mensch hat die komplette Einrichtung bisher mit insgesamt knapp 997.000 Euro gefördert. Sibylla von der Recke-Voelkel und Ansgar Voelkel sind das erste Bewohnerpaar, das dort Hochzeit feierte. Im Mai 2011 haben sie mit dem Segen beider Familien geheiratet, kirchlich und standesamtlich, ganz traditionell mit Kutschfahrt und gemeinsamen Anschneiden der Hochzeitstorte. Sie im weißen Brautkleid, er im schicken Anzug, geflittert wurde am Bodensee. Alles prima seither, nur eines nicht: Sie haben zwei nebeneinander liegende Zimmer und müssen, um sich zu besuchen, immer über den WG-Flur. Kein Zustand, findet das Ehepaar. Die Mauer muss weg.
Während ich das Paar interviewe, sitzen beide in Sibylla von der Recke-Voelkels Zimmer. Die quirlige 34-Jährige rutscht auf dem Sofa herum, die Geschichten über ihre Hochzeit sprudeln nur so aus der kleinen Frau heraus. Ihr Ehemann, der hochgewachsene Ansgar Voelkel, ragt schweigend neben ihr auf. Das Sprechen fällt dem hageren 43-Jährigen schwer. Trotzdem war er es, der damals den ersten Schritt machte, als die beiden sich bei der Arbeit in den Rhein-Sieg Werkstätten in Eitorf trafen. „Er kam zu mir und wollte mich kennenlernen“, erzählt sie lächelnd. Ansgar Voelkel blieb dran, begleitete sie oft zur Arbeit, irgendwann funkte es. Er war ihr erster Freund, sie seine erste Freundin. Während dem Interview tauschen sie ständig kleine Zärtlichkeiten aus wie frisch Verliebte. Dabei sind sie schon über zehn Jahre zusammen.
Eine ganz normale Liebe? Ja, findet man ein paar Häuser weiter, wo sich einige der 165 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Sexualpädagogin Petra Schyma zum Arbeitskreis „Freundschaft, Partnerschaft, Sexualität“ zusammensetzen. Der Eichhof arbeitet seit Jahren daran, die Themen Liebe und Sex aus der Tabuzone zu holen. Der Arbeitskreis hat dazu ein Konzept entwickelt; eine Richtschnur dafür, die Betreuten als Frauen und Männer mit Wünschen nach Sexualität und Partnerschaft zu akzeptieren, ihre Intimsphäre zu schützen und auf ihre Bedürfnisse zu reagieren. Da gibt es so manchen Klärungsbedarf. Nicht zuletzt, weil 90 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner unter gesetzlicher Betreuung stehen, zumeist der ihrer Eltern. „Sexualität und Partnerschaft fällt aber nicht unter die gesetzliche Betreuung, sondern gehört zum Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen“, betont Petra Schyma. „Die Menschen entscheiden selber, wen sie in ihrem Zimmer empfangen und mit wem sie zusammen sind und die Mitarbeiter haben die Aufgabe, das zu unterstützen. Hier kommen sie in einen Grenzbereich, weil die Eltern es, in guter Absicht, gewohnt sind, fast alles für ihre inzwischen erwachsenen Kinder zu entscheiden.“ Das Recht haben sie in Sachen Partnerschaft aber nur begrenzt, beispielsweise bei Fragen der Verhütung, wenn dafür ein Arztbesuch nötig ist. Der Eichhof bietet Eltern, die das Thema verunsichert, eine Beratung an.
„Viele, die mit 18 hier herkommen, sind zum ersten Mal vom Elternhaus weg“, beschreibt Schyma. „Sie erleben dann, psychisch gesehen, die Pubertät in allen Facetten nach. Oft sind sie mit einer Zuschreibung als asexuelle Wesen aufgewachsen, deshalb spielen die Sexualaufklärung und das Finden einer sexuellen Identität hier eine große Rolle.“ Mit diesen Fragen befassen sich auf dem Eichhof regelmäßige Gesprächsgruppen für Paare, Frauen und Männer. Vieles, so sagen die Betreuer, ist hier in Sachen Liebe genauso wie in jedem anderen Dorf: Es gibt welche, die gerne flirten und schnell die Partner wechseln, es gibt welche, die sich ewig zwischen zwei Verehrern nicht entscheiden können, es gibt welche, die unzertrennlich sind. Manche gehen selbstbewusst mit ihrem Körper um, andere verstecken ihn verschämt.
Die Verständigung miteinander sei für Liebende mit geistiger Behinderung allerdings viel schwieriger, erklärt Sexualpädagogin Schyma. Manche entwickelten durch ihr Handicap kein Gespür dafür, ob man eine Kumpelfreundschaft führt oder in einer Partnerschaft ist und was das eigene Verhalten bei dem anderen auslösen kann. Nicht selten fehle die Fähigkeit, klare Grenzen zu setzen und die Grenzen anderer zu akzeptieren. Fast immer fehlten die Worte, über Sexualität und Liebe überhaupt angemessen zu reden. Man könne dem anderen nicht klar machen, was man will, und aggressives Verhalten nicht deuten. Kommt Ihnen das grundsätzlich bekannt vor? Mir auch.
Sibylla von der Recke-Voelkel und Ansgar Voelkel lernen seit Jahren, sich zu verständigen und sind beharrlich darin, ihre Wünsche als Paar durchzusetzen, vom Leben im selben Wohnhaus bis hin zur Hochzeit. „Ich fühle mich besser mit ihm zusammen“, sagt Sibylla von der Recke-Voelkel und stupst AnsgarVoelkel an. „Und Du auch?“, fragt sie ihn. Er nickt und schickt ein deutliches „Ja!“ hinterher. Ein paar Tage nach meinem Besuch erfahre ich, dass der Geschäftsführer den Auftrag für den Einriss der Zwischenwand erteilt hat. Der Durchbruch ist fast geschafft.
(Autor: Carmen Molitor)