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Blindheit in den Medien (2): Der blinde Zeuge

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Schauspieler der US-Serie "Blind Justice"

Wie wird Blindheit in Presse, Literatur und TV dargestellt? Und was sagt die Darstellung über den Umgang mit Behinderung in unserer Gesellschaft aus? In einer dreiteiligen Serie geht Heiko Kunert diesen Fragen nach. Im zweiten Beitrag geht es um die Darstellung im Krimi.

POLIZIST 1: "Diese Frau Reinhard ..."
POLIZIST 2: "... sie hat nichts gesehen?"
POLIZIST 1: "Die Sache ist die ..."
POLIZIST 2: "Was?"
POLIZIST 1: "Sie ist blind."
POLIZIST 2: "Was hast du gesagt?"
POLIZIST 1: "Ja, Harry. Sie ist blind. Sie war am Tatort, als es passierte, aber sie hat nichts gesehen. Sie ist blind."
POLIZIST 2: "Scheiße, das hat mir gerade noch gefehlt, 'ne Blinde als Zeugin."

So oder ähnlich reagieren die Ermittler im Krimi, wenn sie erfahren, dass sie es mit blinden Zeugen zu tun haben. Beim ersten Verhör gibt es Unsicherheiten, die sich in Fragen wie "Was haben Sie gesehen?" und Antworten wie "Ich habe nichts gesehen" widerspiegeln.

Und natürlich führt der überdurchschnittliche Geruchs-, Hör- oder Tastsinn zur Aufklärung. So auch in dem deutschen Spielfilm "Die einzige Zeugin" (1995), aus dem unser Eingangsdialog stammt.

BLINDE ZEUGIN: "Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass hier eine Frau war?"
POLIZIST: "Nein, den Eindruck habe ich nicht. Die haben hier gehaust wie die Schweine."
BLINDE ZEUGIN: "Warum dann die Blumen? Ich habe Blumen gerochen, als wir hereingekommen sind. Rosen."
POLIZIST: "Rosen?"
(Er geht zum Papierkorb und zieht einen Karton heraus. Darin ist ein Strauß Rosen. Er reicht ihn der blinden Zeugin Mascha Reinhard.)
POLIZIST: "Da sind sie."
(Die blinde Zeugin riecht daran, er liest die Adresse des Blumenhändlers vor.)
BLINDE ZEUGIN: "Die sind noch ganz frisch."
POLIZIST: "Warum wirft jemand frische Blumen weg?"
BLINDE ZEUGIN: "Vielleicht, weil sie ihren Zweck erfüllt haben."
(Sie schnuppert nochmal.)
BLINDE ZEUGIN: "Was ist denn dieser andere Geruch hier?"
POLIZIST: "Waffenöl." (Er sieht in die Schachtel.) "Du bist genial!"
BLINDE ZEUGIN: "Was?"
POLIZIST: "Da waren nicht nur Blumen in der Schachtel, da ist auch ein Abdruck, ein Abdruck wie von einem Gewehr."

Der blinde Zeuge ist ein beliebtes Krimimotiv in Kino, TV und Literatur. Meist wirkt die Handlung arg konstruiert, die Szenen stereotyp. Aber das vermittelte Bild von Blindheit ist wohlwollend: Die Betroffenen werden von ihren sehenden Mitmenschen unterschätzt und beweisen, dass sie einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung des Verbrechens leisten. Dennoch bleibt der Eindruck, dass es nur selten um eine realistische und differenzierte Darstellung von Sehbehinderung geht, sondern vor allem um einen vermeintlichen Überraschungseffekt. Der blinde Mensch erscheint kurios, beinahe übersinnlich und emotional anrührend – aber nur selten ganz normal.

"Ja, ich habe alles gehört, Herr Kommissar. Ich stand nur zwei, drei Meter entfernt an der Küchentür. Auch Ohren können etwas wahrnehmen, auch die Nase und sogar die Haut."
(Mit Leib und Seele: Die verzweifelte Tat, BRD 1990)

BLINDE ZEUGIN: "Er wiegt etwa 190 Pfund."
POLIZIST: "Woher wissen Sie das?"
BLINDE ZEUGIN: "Hm, wie groß er ist, merkte ich daran, aus welcher der Höhe seine Stimme kam. Er stand ja neben mir. Und der Fußboden hier im Korridor, ab 80 Kilo knarrt er leicht und wird dann lauter."
POLIZIST: "Können Sie uns sonst noch was sagen?"
BLINDE ZEUGIN: "Ja, er hatte einen Narbe hier auf der rechten Seite. Er hatte kurzgeschnittenes fettiges Haar. Er trug ein Sportjackett aus Tweed. Die Qualität war ausgezeichnet. Ich habe es sofort gerochen und gefühlt. Und noch etwas: Ich glaube, er ist Boxer."
(Drei dunkle Straßen, USA 1954)

POLIZIST (zu blindem Zeugen): "Mr. Hannon, wenn Ihre Vermutung stimmt, dann haben Sie wirklich mehr gesehen als wir alle zusammen!"
(23 Schritte zum Abgrund, USA 1956)

Inzwischen wird das Motiv des blinden Zeugen immer häufiger vom blinden Ermittler abgelöst. Es scheint fast so, als müssten die Autoren von Drehbüchern und Kriminalromanen noch eine höhere Stufe auf der Originalitätsleiter erklimmen. Da gibt es blinde Detectives und sogar blinde Cops, die mit Pistole im Anschlag vor Ort ermitteln:

DUNBAR: "Ich habe bloß eine kleinkalibrige Pistole, für den Fall eines Nahkampfes."
LIEUTENANT: "Hören Sie, um Ihretwillen und um der Sicherheit meiner anderen Detectives willen, überlegen Sie sich das nochmal und erwägen Sie, auf dem Revier zu bleiben. Sie werden sehen, dass man Sie noch viel mehr respektiert, wenn Sie die Kollegen von hier aus unterstützen, anstatt ihr Leben zu riskieren."
DUNBAR: "Ich bin kein Zivilbeamter, ich bin Detective. Ich will nur eine Chance."
LIEUTENANT: "Es gibt hier in dieser Mannschaft keinen, der Sie für Ihren Einsatz vor der Bank nicht bewundert, aber ehrlich gesagt, niemand will mit Ihnen da draußen Dienst tun."
DUNBAR: "Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht wüsste, dass ich meinen Job schaffe, und wenn sich herausstellt, dass ich es nicht kann, dann geh ich sofort."
(Blind Justice: Überzeugungsarbeit, USA 2005)


Linktipps:
Blindheit in den Medien (1): Der blinde Alltag. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert
Filmreife Behinderung. Ein Blogbeitrag von Raúl Krauthausen
Filmkritik: "Einer wie Bruno". Ein Blogbeitrag von Ulrich Steilen
Der Spielfilm "Blind" beim Aktion Mensch-Filmfestival

(Autor: Heiko Kunert)


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