Interview über die Hintergründe der häufigen sexuellen Gewalt gegen Frauen mit geistiger Behinderung
Eine Studie des Bundesfamilienministeriums machte es 2012 deutlich: Mädchen und Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung sind zwei bis drei Mal häufiger sexualisierter Gewalt ausgesetzt wie der Durchschnitt aller Frauen. Anlässlich des Weltfrauentages befragte Aktion Mensch-Mitarbeiterin Carmen Molitor die Diplom-Sozialpädagogin Melanie Abbas zu den Hintergründen. Abbas ist Leiterin eines neuen Aufklärungsprojektes gegen sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen mit geistiger Behinderung der Beratungsstelle Violetta im Landkreis Lüchow-Dannenberg, das die Aktion Mensch mit 131.947 Euro fördert.
Carmen Molitor: Frau Abbas, wieso werden Frauen mit geistiger oder psychischer Behinderung so erschreckend häufig Opfer sexualisierter Gewalt?
Melanie Abbas: Das liegt zum einen an der Sozialisation. Viele der Frauen sind fast ihr ganzes Leben lang in Abhängigkeitsverhältnissen, Betreuungs- und teilweise Pflegesituationen und müssen sich dort entsprechend anpassen. Häufig sind sie leicht zu manipulieren und können sich sprachlich nicht gut ausdrücken. In diesem Umfeld ist es für Täter einfach zu agieren. Sie können sich in der Regel recht sicher fühlen, denn oft wird den Frauen gar nicht geglaubt, dass sie Übergriffe erlebt haben. Die Täter nutzen das aus.
Die Studie des Bundesfamilienministeriums ergab, dass schon in Kindheit und Jugend jede vierte Frau mit Behinderung sexualisierte Gewalt erlebt hat. Was können Familien tun, um Mädchen besser zu schützen?
Es ist besonders wichtig, dass die Familien sich mit der Sexualität und der psychosexuellen Entwicklung von Töchtern mit geistiger Behinderung überhaupt einmal befassen. Die körperliche Entwicklung ist ja bei ihnen genauso wie bei allen anderen jungen Frauen auch. Das Thema wird aber oft ausgelassen. Es gibt auch kaum verständliche Informationen für die Mädchen über ihren Körper oder ihre Sexualität. Es wäre wichtig, dass Kinder so erzogen werden, dass es für sie selbstverständlich ist, Sexualität zu leben und zu haben.
Es fällt aber vielen Eltern schwer, eine Tochter mit einer geistigen Behinderung als pubertierende junge Erwachsene zu sehen - viele behandeln sie noch sehr lange wie ein Kind.
Ja, das ist ein großes Problem. Deshalb müssen auch Förderschulen oder Werkstätten, wo junge Erwachsene hingehen, darauf hinwirken, dass das Thema Sexualität bei den Eltern nicht hinten runter fällt. Es in den Familien totzuschweigen, führt nur zu Missverständnissen. Die Töchter haben ja das Bedürfnis, ihre Sexualität zu leben, eine Partnerschaft einzugehen und eventuell Kinder zu bekommen. Das muss einfach besprochen werden. Die Töchter müssen ein Bewusstsein für sich als Frau entwickeln können. Und sie müssen erleben, dass sie auch Nein sagen dürfen. Je offener eine Familie damit umgeht, desto sicherer kann ein Mädchen herausgehen in die Gesellschaft.
Auch im Erwachsenenalter beklagen laut der Studie bis zu 43 Prozent der Frauen mit Behinderung erzwungene sexuelle Handlungen. So kommen in den Einrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen sowohl Übergriffe des Personals als auch Übergriffe von Mitbewohnern oder Kollegen vor. Bis zu zwei Drittel der Befragten gaben ein "eingeschränktes Sicherheitsgefühl" an, wenn sie mit anderen Bewohnern allein gelassen werden. Sind sich die Einrichtungen dieser Probleme ausreichend bewusst?
Das Bewusstsein ist noch nicht ganz vorhanden. In den meisten Häusern gibt es keine Handlungsleitlinien bei Vorfällen von sexueller Gewalt. Wie reagiert wird, ist dort davon abhängig, wer grade auf die Situation stößt. Es gibt selten eine Vereinbarung darüber, wie man sich verhält, wenn es zu sexueller Gewalt kommt.
Aber die Diskussion über sexualisierte Gewalt - beispielsweise in kirchlichen Heimen - läuft doch seit Jahren. Hat das die Einrichtungen nicht wachsamer gemacht?
Doch, es gibt durchaus viele Menschen, die sagen, da wollen wir jetzt mal drangehen. Da hat sich schon viel getan. Aber das ist noch längst nicht flächendeckend. Es gibt eben viele Kontaktschwierigkeiten mit dem Thema. Man ist sich sicher, wie man sich verhält, wenn jemand beispielsweise geschlagen wurde. Bei einem sexuellen Übergriff könnte man genauso konsequent reagieren, aber das Thema erzeugt beim Personal ganz viel Unsicherheit und Ängste.
Was muss darüber hinaus im Sinne der Frauen verbessert werden?
Die Einrichtungen brauchen ein Beschwerdemanagement und sollten Zugang zu einer externen Beratung ermöglichen. Vor allem aber muss eine Frau ernst genommen werden, wenn sie von einem Übergriff erzählt. Oft ist es nämlich so, dass die Frauen als Querulantinnen dargestellt werden. Sie erfahren keinen Schutz oder Trost, sondern eine erneute Demütigung und Abwertung. Ich weiß beispielsweise von dem Fall einer Vergewaltigung eines Bewohners an einer Mitbewohnerin. Da war ganz erschreckend zu sehen, dass der Frau von Seiten der Polizei überhaupt nicht geglaubt wurde. Es kam zwar zur Anzeige, und es gab Beweise, der Täter hat auch alles zugegeben. Im Endeffekt hat aber das Opfer die Einrichtung verlassen, während der Täter dort immer noch wohnt.
Wo setzt die Arbeit des Violetta-Aufklärungsprojekts an?
Es geht uns darum, über das Ausmaß und die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs zu informieren, damit sich die Lebensumstände der Frauen verbessern. Ich mache den Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung unterschiedliche Fortbildungsangebote. Wir bieten auch Beratungen in Leichter Sprache und Veranstaltungen zu Sexualaufklärung und Selbstbehauptung für Frauen und Mädchen mit Behinderung. Außerdem ist geplant, die Einrichtungen im Landkreis mit der Politik, den Behindertenbeauftragten und dem Behindertenbeirat zu vernetzen. Das Interesse ist vorhanden.
Mehr zum Thema:
Die Beratungsstelle Violetta gegen sexuelle Gewalt an Frauen und Mädchen
Die Studie "Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland" des Bundesfamilienministeriums (PDF-Dokument)
Die Zusammenfassung der Studie "Lebenssituation und Belastungen von Frauen ..." in Leichter Sprache (PDF-Dokument)
Die Förderprogramme der Aktion Mensch
(Autor: Carmen Molitor)