Der Sonderpädagoge an der Stadtteilschule Hamburg-Mitte, Thomas Nedden, ist einer der wenigen Lehrer, die selbst mit einer Hörbehinderung leben. Doch gerade in dieser Hörbehinderung liegt seine besondere Kompetenz.
Thomas Nedden besucht in den achtziger und neunziger Jahren die Grund- und Realschule zusammen mit hörenden Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein. Doch er bleibt ein Außenseiter. Es gibt zwar einen Sonderpädagogen aus Schleswig, der den Jungen drei- bis viermal im Jahr betreut und den anderen Lehrern, die ihn unterrichten, Grundlagen zum Thema Hörschädigung vermittelt. Doch sie halten sich selten an diese Tipps und lösen nicht die Probleme, die der Heranwachsende hat. Zum einen sind die Klassen mit ca. 30 Schülerinnen und Schülern viel zu groß, so dass er die anderen nur selten versteht und im Unterricht nur etwas mitbekommt, wenn er genug Kraft zur nötigen Konzentration hat. Zum anderen gibt es an den Schulen keinen anderen Hörbehinderten, mit dem er sich austauschen könnte.
Selbstverständlich angenommen
Solche unsicheren Kommunikationssituationen sind oft der Grund dafür, dass sich Hörgeschädigte zurückziehen - das tut auch Thomas Nedden. "Dieses Verhalten führte dazu, dass ich mich mehr und mehr von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern entfremdete. Mit intensiver häuslicher Nacharbeit des schulischen Lernstoffes erreichte ich meinen Realschulabschluss." Da er sich anschließend nicht für einen Ausbildungsberuf entscheiden kann, wechselt er auf das Lohmühlen-Gymnasium - ein Tipp von seinem Betreuer aus Schleswig. An dieser Schule in Hamburg werden bereits seit den siebziger Jahren Schülerinnen und Schüler mit und ohne Hörbehinderung gemeinsam unterrichtet. "Die Zeit auf der Lohmühle waren für mich persönlich die wichtigsten Jahre meiner Schullaufbahn", sagt Thomas Nedden heute und betont, dass für seinen erfolgreichen Werdegang vor allem die Selbstverständlichkeit ausschlaggebend war, mit der er als Mensch mit einer Hörbehinderung auf dem Lohmühlen-Gymnasium angenommen wurde. "Ich konnte dem Unterrichtsgeschehen jetzt folgen und lernte andere Hörbehinderte kennen. Das half mir dabei, meine Identität als Hörgeschädigter zu entwickeln und mein Selbstbewusstsein zu stärken. Das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin: ein Lehrer mit einer Hörbehinderung an meiner alten Schule - einen Schritt, den ich bis heute nicht bereut habe."
Gemeinsames Lernen nicht selbstverständlich
Es ist in Deutschland für schwerhörige und gehörlose Menschen noch nicht immer selbstverständlich, am normalen Bildungssystem teilzunehmen. Die Stadtteilschule Hamburg-Mitte, das einstige Lohmühlen-Gymnasium, ist seit 40 Jahren die einzige Schwerpunktschule für den Förderschwerpunkt Hören im Norden Deutschlands, die schwerhörigen Schülerinnen und Schülern eine integrative Beschulung anbietet. Über 240 Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung haben seit den 70er Jahren diese Schule mit dem Abitur verlassen. Dabei zählen die Hörbehinderten oft zu den besten Absolventen. Mit dem Wandel zur Stadtteilschule werden Integrationsklassen mit hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern nun schon von der 5. bis zur 10. Klasse in der Mittelstufe und wie bisher in der Vorstufe bis zur 12. Klasse eingerichtet. Derzeit besuchen insgesamt 40 hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler die Schule, die in den Integrationsklassen die Möglichkeit haben, sich untereinander auszutauschen. Die Bedingungen, unter denen sie lernen, sind nicht mit denen anderer Klassen zu vergleichen: Maximal 12 bis 15 Schüler lernen in schallisolierten, mit Höranlagen ausgestatteten Räumen. Die Lehrer, die die Hörbehinderten unterrichten, bilden sich regelmäßig fort. Hinzu kommt, dass der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund an der Schule schon immer besonders hoch war. "Die Menschen", so schätzt Thomas Nedden ein, "sind hier besonders tolerant." Eben eine heterogene und multikulturelle Schülerschaft.
Für Gehörlose fehlt die Kommunikation über Gebärdensprache
Thomas Nedden spricht aber auch offen darüber, dass noch nicht alle jungen Leute mit einer Hörbehinderung an dieser Schule lernen können. Die Hörtechnik, so der engagierte Lehrer, werde zwar immer besser und die Schule sei inzwischen mit modernen Höranlagen und Whiteboards ausgestattet. Doch Schülerinnen und Schüler mit einer hochgradigen Hörschädigung können bisher diese Schule nicht besuchen. Ihnen fehle momentan die Unterstützung durch die Gebärdensprache, die für einige eine notwendige Grundlage für eine erfolgreiche Kommunikation sei. Denn generell sollen alle Hörbehinderten die Wahl zwischen der Lautsprache und der Gebärdensprache haben.
Daher muss und will sich die Stadtteilschule Hamburg-Mitte in Zukunft auch für gehörlose Schülerinnen und Schüler öffnen. Das setzt voraus, dass den Lehrerinnen und Lehrern ein Gebärdensprachdolmetscher zur Seite gestellt wird. Nach Möglichkeit soll die Deutsche Gebärdensprache als Fremdsprache an der Schule angeboten werden. Denn gehörlose Schülerinnen und Schüler können nur inkludiert werden, wenn die Grundlage für eine erfolgreiche Kommunikation vorhanden ist. Dazu gehört auch, dass möglichst alle Schüler und Lehrer an der Schule Grundkenntnisse in der Gebärdensprache haben.
Besonderes Kursangebot
Aber auch die betroffenen Schülerinnen und Schüler selbst müssen lernen, optimale Kommunikationsbedingungen herzustellen und Strategien zu entwickeln, um den Alltag mit ihrer Hörbehinderung erfolgreich zu meistern. Dafür sollen Hör- und Kommunikationstaktikkurse institutionalisiert werden, die die Betroffenen in ihren sozialen Kompetenzen stärken. Wenn es gelänge, all diese Voraussetzungen umzusetzen, wäre die Stadtteilschule Hamburg-Mitte die erste wirklich inklusive Schule in Deutschland mit dem Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation, an der auch das Abitur erreicht werden kann.
Erfahrungen weitergeben
Thomas Nedden hatte während seiner Abiturzeit lange Zeit Zweifel, ob es sinnvoll ist, mit einer Hörbehinderung Lehrer zu werden. Ob er genug Selbstbewusstsein haben würde, um Kinder und Jugendliche zu erziehen und auszubilden. Doch bei seiner Entscheidung, Lehrer zu werden, half ihm vor allem, dass er während seiner Schulzeit am Lohmühlen-Gymnasium von einem Lehrer mit Hörbehinderung unterrichtet wurde, der ihm ein Vorbild war und ihm half, seine Identität zu finden. Diese Erfahrung will er weitergeben. Denn er weiß, dass es mehr Lehrer bedarf, die selbst mit einer Behinderung leben.
Weitere Informationen & Linktipps:
Das Handlungsfeld "In der Schule" der Aktion Mensch"Schule für alle gestalten": Das Praxisheft der Aktion Mensch für Lehrerinnen und Lehrer (PDF-Dokument)
Mehr Infos zum Thema Schule beim Familienratgeber
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(Autor: Margit Glasow)