In Berlin probt ein integratives Tanztheater für Kinder unter professioneller Anleitung
Und jetzt mit Musik: "Geradeaus laufen - hinlegen - rollen - ins Publikum gucken ...", ruft die Tanzlehrerin ihrer kleinen bunten Gruppe im Spiegelsaal eines Kreuzberger Hinterhofs zu. Die Elf- bis Zwölfjährigen tanzen sofort los, gucken sich die Schritte und Figuren bei der Tanzlehrerin ab.
Seit April 2012 probt die Tanzgruppe immer dienstags und die Akrobatikgruppe immer donnerstags unter professioneller Anleitung am Theaterstück "Momo" nach dem Roman von Michael Ende. Die Gruppen wollen das Drehbuch und die Choreografie selbst entwickeln und Tanz und Akrobatik ineinander fügen. Doch sie sind zeitlich im Verzug. Die Premiere war schon für den letzten Herbst geplant, aber es ist schwer, die Schülerinnen und Schüler zum Üben bei der Stange zu halten. Sie finden einfach nicht immer Zeit zum Proben.
Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben
Immer dienstags kommen Mädchen und Jungen, die die Kinderfreizeiteinrichtung "Graefe-Kids" besuchen, für eine Stunde in die dritte Etage im zweiten Hinterhof und wirbeln dort übers glänzende Parkett. Die Mehrzahl wohnt in der der Werner-Düttmann-Siedlung, einem so genannten Problemkiez. In dieser Neubausiedlung zwischen Hasenheide und Urbanstraße sind hauptsächlich Migrantenfamilien zu Hause, die aus den unterschiedlichsten Ländern geflüchtet sind. Die meisten leben von Hartz IV.
Viele der kleinen Tänzerinnen und Tänzer arabischer, palästinensischer, kurdischer und türkischer Herkunft hetzen durch den Tag und haben keine Zeit mehr für sich. Damit sind wir beim Thema von Momo: Zeit. Der Roman wird vom Tanztheater keineswegs eins zu eins umgesetzt. Der Lehrer beschreibt es so: "Wir nehmen einfach die Weisheiten aus dem Buch und übersetzen sie in den Alltag der Kinder. Das bedeutet, sie nehmen sich Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben - zum Beispiel für Theater, Akrobatik und Tanz."
"Und jetzt laufen wie James Bond"
Im Spiegelsaal im Hinterhof gibt es tatsächlich weder die kleine Heldin Momo noch die grauen Herren, die es als Zeitdiebe auf die kostbare Lebenszeit der Menschen abgesehen haben. Zwischen 16 und 17 Uhr gibt es nur Kinder, die leidenschaftlich und sehr ernsthaft bei der Sache sind, hinfallen und wieder aufstehen und jede Menge Spaß haben. Ein kleiner Deutsch-Russe ist eindeutig der Vortänzer in der Gruppe. Selbstbewusst erzählt der Elfjährige, dass er eigentlich schon immer getanzt hat und selbstverständlich Tänzer werden will. Mit der Regieanweisung "und jetzt laufen wie James Bond" hat er überhaupt kein Problem. Die Mädchen finden Tanzen voll cool und werfen ihre Haare bei den Seitwärtsschritten gekonnt zurück. Wer hier bei den Schrittfolgen, die zunächst "trocken", das heißt ohne Musik, geübt werden, nicht gleich mitkommt, für den gibt es eine freundliche Einzelanleitung bei Thomas und Jule - den beiden ausgebildeten Tänzern und Sozialassistenten.
Im Roman von Michael Ende gibt es Stunden-Blumen. Sie wachsen in den Herzen der Menschen und stehen für die Lebenszeit. Die Kinder nehmen diese Zeit langsam und proben geduldig Schritt für Schritt für ein Tanztheaterstück, das noch vor den Sommerferien aufgeführt werden soll. Bis dahin muss auch das Outfit stehen, das in einer Pause heftig diskutiert wird. Die Tanzlehrer schlagen graue Hosen und bunte T-Shirts vor, die Kinder sind für Sonnenbrillen. Doch das ist noch nicht ausdiskutiert ...
Die Aktion Mensch hat das Tanztheaterprojekt mit 4.000 Euro gefördert.
Linktipps:
Die Kinderfreizeiteinrichtung "Graefe-Kids" in Berlin
Förderaktion "Miteinander gestalten" der Aktion Mensch
(Autor: Gundel Köbke)