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"Viele chronisch Kranke bleiben unsichtbar"

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Pressekonferenz mit (von links) Christine Lüders, Hubert Hüppe, Ernst von Kardorff und Katarina Witt

Unter dem Motto "Selbstbestimmt dabei. Immer" haben Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, und Hubert Hüppe, Bundesbehindertenbeauftragter, ein Themenjahr gegen die Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen ausgerufen. In 2013 wird es zahlreiche Aktionen geben, die auf Benachteiligungen im Arbeitsleben, im Bereich Bildung und im Alltag aufmerksam machen sollen. Wissenschaftlich begleitet wird das Themenjahr von Prof. Dr. Ernst von Kardorff von der Humboldt-Universität Berlin. Im Interview erklärt er, warum gerade auch psychisch und chronisch Kranke von Diskriminierung betroffen sind. Detaillierte Ergebnisse der drei Forschungsvorhaben im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle werden im Juni veröffentlicht.


Über Diskriminierung von Menschen mit chronischen Krankheiten wird weit weniger diskutiert als über die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. Woran liegt das und wie unterscheiden sich chronische Krankheiten überhaupt von Behinderungen?
Die Abgrenzung ist in der Tat schwierig. Laut dem SGB IX gelten Menschen als behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und dadurch Beeinträchtigungen drohen. Schwerbehindert ist man ab einem Grad der Behinderung von 50. Bei vielen chronischen Krankheiten besteht die Schwierigkeit oft darin, den Grad der Behinderung festzustellen. Viele Betroffene wollen sich auch selbst nicht als behindert ansehen, sind aber trotzdem auf Unterstützung angewiesen. Sicher ist, dass chronische Krankheiten zunehmen. Bei einer aktuellen Untersuchung des Robert-Koch-Instituts gaben 42 Prozent der Frauen und 35 Prozent der Männer an, eine chronische Krankheit zu haben. Vor allem psychische Erkrankungen kommen immer häufiger vor. Oft werden gerade diese in der Diskussion um Diskriminierungen wegen Beeinträchtigungen vergessen. Dazu zählen vor allem Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen. Ein Viertel der Frührentner steigt wegen einer psychischen Krankheit früher aus dem Berufsleben aus. Viele Menschen verschweigen ihre chronische Krankheit vor dem Arbeitgeber und im sozialen Umfeld aus Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung. In der Tat besteht auch für diese Personengruppe eine große Gefahr, den Job zu verlieren oder erst keinen zu bekommen. Auch deshalb bleiben viele chronisch Kranke unsichtbar. Die meisten Menschen denken, dass man es beim Thema chronische Krankheiten vor allem mit dem medizinischen Versorgungssystem zu tun hat. Aber es gibt auch im Alltag ein hohes Diskriminierungspotenzial. Das betrifft vor allem psychisch Kranke, aber auch das Thema AIDS und Suchterkrankungen, diesen Menschen wird häufig der Vorwurf der Selbstverschuldung gemacht.

Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes forschen sie außerdem zum Thema Arbeitswelt und Menschen mit Behinderung. Warum ist es so schwierig, einen Job zu finden, wenn man behindert ist?
Es gibt viele Barrieren für schwerbehinderte Menschen. Die Arbeitslosigkeit in dieser Personengruppe ist doppelt so hoch wie bei den Menschen ohne Behinderung, vor allem schwerbehinderte Frauen haben Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Für dieses Forschungsvorhaben führen wir zahlreiche Interviews mit unterschiedlichen Akteuren. Dabei hat sich herausgestellt: Viele Betriebe sind durchaus bereit, Menschen mit bestimmten Formen von Behinderungen einzustellen: zum Beispiel Rollstuhlfahrer oder auch Blinde. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen stimmen, die Personen die entsprechende Qualifikation besitzen und Zuschüsse für notwendige Umbauten oder Anschaffungen gezahlt werden. Schwieriger ist die Situation für Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Krankheiten, hier gibt es viele Vorbehalte. Als ein gutes Instrument hat sich das betriebliche Eingliederungsmanagement erwiesen. Häufig können flexible Lösungen gefunden werden, wenn Mitarbeiter erkranken oder behindert werden. Doch dieses Instrument nützt nur Menschen, die schon Arbeit haben, nicht den arbeitslosen Schwerbehinderten oder denen, die einen Ausbildungsplatz suchen. Es müssen sich vor allem die weichen Faktoren ändern, die Einstellungen und die Unternehmenskulturen. Die Auszeichnung von Best-Practice-Modellen kann hilfreich sein. Zum einen schafft man dadurch Vorbilder, wie Inklusion in der Arbeitswelt gelingen kann. Zum anderen geben sie Anreize für andere Unternehmen, durch Corporate Social Responsibility eine bessere Außenwirkung zu erzielen. Das Forschungsvorhaben ist noch nicht abgeschlossen, aber man kann schon jetzt sagen: Menschen mit Behinderung sind in der Arbeitswelt hoch motiviert, denn zu arbeiten bedeutet gleichzeitig auch mehr soziale Teilhabe, Selbstbewusstsein und persönliche Zufriedenheit. Und Arbeitgeber wollen Leistung, egal, ob Mitarbeiter mit oder ohne Behinderung.

Ein dritter Schwerpunkt ist das Thema Menschen mit Behinderung in der Geschäftswelt. Bei welchen Geschäften werden sie denn besonders diskriminiert?
Vor allem bei den Themen Wohnen, Versicherungen und Banken fühlen sich Menschen mit Behinderung benachteiligt, das hat eine Forsa-Umfrage gezeigt. Viele wenden sich aus diesem Grund an die Antidiskriminierungsstelle, und tatsächlich kann oft Diskriminierung nachgewiesen werden. Zum Beispiel haben Menschen, die mit Betreuung leben, Schwierigkeiten, ein Konto zu eröffnen. Oder wenn zum Beispiel eine Wohngruppe für Menschen mit Behinderung eröffnet werden soll, kommt es zu Protesten der Nachbarschaft. Auch in der Mobilität sind viele Menschen strukturell benachteiligt. Ein von der Antidiskriminierungsstelle in Auftrag gegebenes Projekt hat hier untersucht, wo es im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) zu Diskriminierung kommt, wenn Menschen mit Behinderung Kunden oder Vertragspartner sind.


Linktipps:
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (achse)
Ablehnung trotz UN-Konvention. Ein Blogbeitrag von Carina Kühne über Inklusion im Alltag von Menschen mit Behinderungen
Wir müssen draußen bleiben. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über Diskriminierungen blinder Menschen in Hamburg
"In Gesetz und Gesellschaft verankern". Ein Interview von Katja Hanke mit Dr. Martin Theben über die Behindertenrechtskonvention im deutschen Rechtsalltag.

(Autor: Stefanie Wulff)


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