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Partnersuche inklusiv: Ein Experiment

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Computer-Tastatur mit einem rosa Herz

Virtuell sind wir alle hip, hören kein Hop und wollen uns selten ernsthaft binden. Wir wollen uns alle "nur mal umschauen", kaum Kompromisse eingehen, geben in das Suchfeld "schlank, ab 1,80 m, dunkelhaarig, ohne Kinder" ein und sind positiv überrascht: Wow, so viele Traummänner!

Ich bin Single. Jeder Single weiß, wie schwer es fällt, es deutlich und hörbar auszusprechen: Ich - bin - ein - Single! Nicht unbedingt verzweifelt und auch nicht stolz darauf, aber eben allein. Oder auch: ohne einen "Anhängsel", könnte man sagen, wenn man sarkastisch sein will; ohne eine "Schulter zum Anlehnen", wenn man eher der Romantiker ist. Meistens jedoch entschuldigt man sich oder sucht nach alternativen Lebensstilen. Man hört dann schon mal Sätze wie: "Ach ... wer versteht schon die Männer/ die Frauen? Ich bin da lieber alleine!" oder: "Ha! Der richtige Partner muss erst mal geboren werden!" Sehr beliebt ist auch: "Ich habe gar keine Zeit, um auszugehen ... wo soll ich denn jemanden kennenlernen?! Und das tägliche Weintrinken an der Bar kostet ja auch noch Geld!"

Chance erkannt

Das Problem der heutigen Zeit haben die Entwickler von Singlebörsen erkannt und die Chance ergriffen. Mit großem Erfolg. Ich wollte es testen, ich wollte es erleben: Welche Wesen da wohl sind und wonach sie alle suchen? Und so landete ich auf einer von vielen Singlebörsen - natürlich lediglich aus purer Neugierde. Wie alle anderen auch, selbstverständlich. "Vorrangig suche ich nach interessanten Menschen für eine Freundschaft", sagen sie. Schon klar.

Das Singledasein

Das Angenehme am Singlesein ist die Unabhängigkeit. Keine Absprachen, keine Kompromisse. Ich esse, wann und was ich will, ich gucke Sendungen, die ich gucken will, auch wenn es "Der Bachelor" ist. Ich laufe in Jogginghosen rum und fühle mich unwiderstehlich, während ich eine Hand voller Chips in den Mund stopfe. Dabei höre ich Joe Cocker und singe laut mit: "Unchain my heart". So sieht mein Singleleben aus. Für die Trauer oder Langeweile fehlt mir die Zeit. Das Blöde am Singledasein ist gar nicht das Alleinsein, sondern die Meinung der Freunde, der Arbeitskollegen und der Nachbarn darüber. "Hm, ob sie noch jemanden findet ...?" oder "Dabei ist sie doch ein hübsches Mädel!" Und Menschen mit Behinderung bekommen grundsätzlich nur zwei Reaktionen: Schweigen und Kommentare wie: "Deine Ansprüche sind aber auch viel zu hoch!"
Natürlich. Zu hoch. Warum sollte ich denn meine Ansprüche runterschrauben? Ich bin nun mal eine tolle Frau, die sich zwar nicht selbst die Jacke anziehen kann, aber dafür ... ich weiche vom Thema ab. Zurück zur Singlebörse.

Mission gescheitert?

Aus Prinzip verweigere ich die speziellen Singlebörsen für "Menschen mit und ohne Handicap". Wenn es schon so beworben wird, dann kann da recht wenig von der gewünschten Inklusion sein, denke ich mir. Ich bin geduldig und erzähle jedem, der es hören will, wie sich ein Leben mit einer Behinderung und den dazugehörigen Sachen, wie Assistenz oder Strohhalme, problemlos gestalten lässt. Die ersten Wochen war ich tatsächlich auf der Suche nach einem Mann, der mein Interesse wecken könnte ... oder dessen Interesse ich wecken könnte. Nach vielen Dates, die mal unsäglich langweilig, mal äußerst spannend und mal mehr als das waren, ist die Mission "Suche den perfekten Mann" gescheitert. Und dann wurde es erst richtig spannend!

Nichts versteckt

Ich habe von Anfang an nichts versteckt: Die Fotos (max. 5) zeigten mein Gesicht, zeigten mich im Rollstuhl. Das war für die dortigen Onlinesingles neu, und die Neugierde war groß. Insbesondere interessierte es die Herren, ob ich zu Geschlechtsverkehr fähig war. Seltsam. Und ob ich denn Lust verspüren würde. Noch seltsamer. Und ob ich denn je Erfahrungen mit Männern machen durfte. "Durfte." Wie verabscheuend das klingt, findet ihr nicht? Denn ich "durfte" tatsächlich. Mehrmals. Ich schrieb zurück: "Ja, und ich bin äußerst dankbar dafür." Je nach Laune antwortete ich mal sehr offen, freundlich und ernst nehmend und manchmal nicht. Der Sarkasmus wurde nicht immer verstanden.

Und dann kommt die Ex ...

Sehr verwirrend waren virtuelle Begegnungen, bei denen die Erwartungen durch das Schreiben hoch angesetzt wurden und kaum Fragen über die sichtbare Behinderung gestellt wurden. Ich habe die "Aufklärung" nie jemandem aufgezwungen, aber war gespannt auf die wirkliche Begegnung. Wie erwartet, kam oft am nächsten Tag eine E-Mail: "Du bist toll ... du bist unglaublich attraktiv ... und ich bin ... nein, verliebt nicht direkt, aber beeindruckt! Aber ich habe im Moment sehr viele private Probleme, ich muss mein Leben neu sortieren. Meine Ex geht mir auch nicht aus dem Kopf ... Aber du bleibst für immer in meinem Herzen, du hast mich inspiriert, mein Leben in die Hand zu nehmen!" - Na toll, das war nicht mein Plan! Wie aus dem Nichts taucht immer plötzlich die Ex-Freundin auf, die in der Beziehung angeblich sehr dominant war und in den letzten Monaten einige Pfunde zugelegt hat. Wie sage ich immer so schön? "Lieber dick und langweilig, als behindert und schön." (Nicht böse gemeint!)

Lustig war, wie unterschiedlich die Mails abhängig von dem aktuellen Foto waren. Manchmal habe ich mir den Spaß erlaubt und habe das Ganzkörperfoto rausgenommen, zu sehen war nur mein Gesicht ohne den Rollstuhl. Prompt kam:
"Hey, du Schöne, dein Foto und dein Text imponieren mir sehr, darf ich mehr über dich erfahren?" oder "Hallo, du scheinst so anders als die anderen hier ... wo ist der Haken?" Ich schrieb: "Es gibt keinen!" zurück und habe einige Tage später ein Ganzkörperfoto hochgeladen. "Ach, da ist er ja ... der Haken. Vielen Dank für das Anlügen." Ich zuckte nur mit den Schultern. Schließlich war es nur ein Experiment: Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft wirklich?

Zurück in der realen Welt

Als eines Tages eine Mail mit folgendem Inhalt kam, war das Experiment für mich erfolgreich abgeschlossen: "Ich finds mutig (wenn auch eigentlich keiner Rede wert), das du dich hier angemeldet hast aber ich sag dir ganz ehrlich, ich fühle mich unwohn in beisein von kranken, behinderten, obdachlosen, etc., da krieg ich immer einen klos im hals und weiß nicht ob ich den anderen bedauern soll, oder froh sein, das es mir vergleichsweise git geht. das finde ich sehr bedrückend" (Originaltext übernommen)

Ich löschte mein Profil, zog ein kurzes schwarzes Kleid an, trug einen roten Lippenstift auf und ging Feiern. Das Leben wollte mich! Und ich lernte an diesem Abend einige attraktive, intelligente und wortgewandte Männer kennen - mit genau den Eigenschaften, auf die ich Wert lege!

Freunde und Freundinnen, falls ihr es tut: Bitte versteckt euch nicht hinter einem Profil, es ist illusionär. Geht raus! Das Leben wartet.


Linktipps:
Stärke braucht keine Muskeln. Ein Blogbeitrag von Anastasia Umrik über das außergewöhnliche Fotoprojekt "anderStark", das Frauen mit Muskelerkrankung in den Mittelpunkt stellt - auch das Thema "Beziehungen" spielt hier eine große Rolle.
Beziehungsbarrieren. Ein Blogbeitrag von Petra Strack über das "inklusive Paar"
Das größte Handicap. Ein Gespräch von Petra Strack und Raúl Krauthausen über Liebe und Partnerschaft von Menschen mit Behinderung

(Autor: Anastasia Umrik)


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