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Zu früh

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Eine lachende Frau hält sich die Hände vors Gesicht, auf die große Augen aufgemalt sind

Eine Kurzgeschichte des blinden Bloggers Heiko Kunert über eine unverhoffte Begegnung mit einem Mann, der wirklich alles über Blinde weiß – oder das zumindest denkt.

„Zu früh“, denke ich. Kaffee- und Muffin-Duft dringt in meine Nase. Er kündigt mir das Ziel meines frühabendlichen Ausflugs an. Nach 50 Metern vernehme ich das typisch dumpfe, aber konstant laute Murmeln: vor allem weibliches Lachen, dazu männliche Geschäftigkeit und kindliches Fordern.

Die glatten Bodenplatten des Eingangs weisen mir den Weg. Die Kugel am Ende meines weißen Stockes rollt gleichmäßig von links nach rechts vor mir her, links, rechts, links, rechts, links, rechts.

„Entschuldigen Sie“, rufe ich aufs Geratewohl in das Stimmenwirrwarr, „ist noch ein Zweiertisch frei?“

„Nicht wirklich“, sagt eine gequetschte Stimme, die gewiss einer Mutter gehört.

„Doch, doch, da hinten“, dröhnt ein rauer Männerbass, der neben der Sachinformation schweren Bierdunst zu mir trägt. „Ich helf‘ dir!“

Ob der Ü-50er jeden duzt oder nur Blinde, frage ich mich. Immerhin zerrt er mich nicht zum freien Platz, sondern bietet mir seinen Arm an. „Ich hab Erfahrung mit euch“, sagt er und lacht.

Ich ahne schon, dass ich diesen Herren nicht so einfach loswerde. Er legt meine Hand auf die Stuhllehne. Ich setze mich.

„Na, wie hab ich das gemacht?“, fragt er.

„Alles perfekt, danke“, antworte ich.

Er setzt sich auch. Ich wusste es. Wird er mir jetzt von seiner erblindeten Mutter berichten oder von seinem Berufsalltag als Altenpfleger oder Sonderschullehrer, Erzieher für blinde Kinder vielleicht?

„Ich find euch voll faszinierend“

„Ich war mal im Dialog im Dunkeln“, platzt es aus ihm heraus. „Ich find euch voll faszinierend. Ich bin Jürgen!“ Eine fleischige, durch die Sommerhitze feuchtgeschwitzte Hand greift nach meiner.

Jetzt sind wir wohl Kumpel, denke ich und sage: „Ich bin Jan, hallo Jürgen.“

„Und schon immer blind?“ Wenigstens ist er unverkrampft.

„Nein, sechs war ich, ein Unfall.“

„Schlimm, schlimm. Naja, das Leben muss weiter gehen.“ Jürgen weiß Bescheid, denke ich.

„Ja, man findet seinen Weg“, sage ich und möchte von Blindenschrift, sprechenden Uhren und Kochkursen für Blinde reden.

„Ihr entwickelt ja auch einen sechsten Sinn“, unterbricht mich mein Gegenüber.

Ich habe ja nicht einmal einen fünften Sinn, denke ich und sage es auch.

Er schweigt – wer hätte gedacht, dass er das kann? – verdutzt. „Ja, nein, ich meine, ihr nutzt andere Sinne.“

„Ja, das stimmt“, antworte ich in der Hoffnung, auf sicheres und vertrautes Smalltalk-Terrain gelangt zu sein. „Wenn ich an einer Kreuzung bin, dann höre ich an den parallel anfahrenden Autos, dass ich Grün habe.“

„Schon klar. Du kannst bestimmt auch hören, wie ich aussehe“, fragt Jürgen die für einen Sehenden nicht allzu ungewöhnliche Frage.

„Nein, und es interessiert mich auch nicht. Wie jemand aussieht, spielt für mein Leben keine Rolle.“

„Das ist toll!“, findet Jürgen.

Kann nicht mal die Bedienung kommen, denke ich.

Er will nicht hören, dass blinde Menschen so unterschiedlich wie sehende sind

„Dieser ganze oberflächliche Quatsch ist euch egal! Wären doch alle Menschen so!“ Jürgen schwärmt. „Du siehst das Wesentliche. Sei froh, dass du den ganzen Scheiß nicht angucken musst. Du siehst, welche Menschen gut sind“, frohlockt er. Und ich bin mir sicher, dass er sich für gut hält.

Ich wünsche mir den guten Menschen herbei, mit dem ich hier verabredet bin.

Ich setze an, Jürgen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Aber da will er gar nicht hin. Er will nicht hören, dass blinde Menschen so unterschiedlich wie sehende sind, dass die einen wissen wollen, wie jemand aussieht, die anderen nicht, dass die einen musikalisch sind, die anderen nicht, dass die einen voll integriert, die anderen lieber unter sich sind, dass die einen oberflächlich und die anderen weltoffen sind. Jürgen holt lieber zum finalen Schlag aus:

„Ich bin mir sicher, ihr könnt hellsehen!“

Jetzt bin ich verdutzt. Nach einer Pause bricht sich meine Verwirrung in einem kraftvollen Lachen bahn. Ich lache und lache, immer lauter.

„Nein, wirklich“, versucht Jürgen zu begründen. Aber ich kann ihm nicht mehr zuhören. Ich zittere, bebe vor Lachen. Hellsehen. Was kommt noch? Mit Tieren sprechen? Gold scheißen?

„Hier ist ja eine tolle Stimmung“, sagt die weiche, klare Stimme, die sich heute in Rosenduft hüllt. Die zarte Hand des guten Menschen, mit dem ich verabredet bin, streicht über meine Wange. Und ich schwöre mir, nächstes Mal nicht zu früh hier zu sein.

 

Dieser Text erschien zuerst im Blog „Blind-PR“ von Heiko Kunert

Eine Lesung des Autors gibt es auf Audioboom.com

 

Linktipps:

Schulbesuche mit dem Blindenführhund. Mirien Carvalho Rodrigues über die Unbefangenheit bei ihren Begegnungen mit Kindern

Behinderung ausgeblendet. Mirien Carvalho Rodrigues über Begegnungen in ihrem Job, bei denen ihre Blindheit kein Thema ist

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

(Heiko Kunert)


Küss den Wahnsinn

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„Barrieren auf den Schrottplatz, Schubladen in den Müll, Diagnosen zu Seifenblasen!“ In Köln hat die erste MAD Pride stattgefunden. Bei der Demonstration der besonderen Art sind am Pfingstmontag rund 100 „Freaks und Andersartige“ durch die Straßen gezogen, um ihre Vielfalt und das Leben an sich zu feiern, und gleichzeitig ihre Rechte einzufordern. Wir waren dabei.

einen Erfahrungsbericht gibt's auch unter www.aktion-mensch.de/begegnung

 

Mehr Informationen:

MAD Pride Köln 2015

Pride Parade

Anfang des Demonstrationszuges mit einem großen Transparent mit der Aufschrift "Mad Pride"Menschen mit und ohne Rollstuhl im Demonstrationszug durch die InnenstadtEin Mensch in einem engen "Morph-Suit" und ein junger Mann im Rollstuhl lachen sich anEin Junge mit Down-Syndrom und einer neongelben SicherheitswesteTanzende Demo-Teilnehmer/innenTanzende Teilnehmerinnen der Mad Pride ParadeEine lachende Frau im RollstuhlTanzende Frauen mit und ohne Rollstuhl im Konfetti-RegenLachende Menschen mit und ohne BehinderungDemonstrationsteilnehmer/innen im strahlenden Sonnenschein

(Redaktion )

Essen packt an!

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Eine Frau fährt im Dunkeln mit einem Transportfahrrad, auf dem Suppenfahrrad steht.

Am 13. Juni 2014 fegte das Sturmtief Ela über Essen hinweg und hinterließ eine Spur der Verwüstung: Dächer wurden abgedeckt, umgekippte Bäume blockierten Straßen und Bahnlinien. Innerhalb von Stunden gründeten Spontanhelfer die Plattform „Essen packt an!“. Die Aufräumarbeiten sollten der Startschuss für ein neues Bürgerengagement in der Stadt sein.
 

Die professionellen Helfer von Feuerwehr, THW und Polizei rückten während des Sturms pausenlos aus und stießen an ihre Grenzen. Als am nächsten Tag das ganze Ausmaß der Verwüstung sichtbar wurde, war auch für Markus Pajonk klar, dass hier auch die Bürgerinnen und Bürger gefragt waren. Er setzte mit einer Handvoll Mitstreiter die Facebook-Seite „Essen packt an!“ auf und brachte innerhalb von Stunden nicht weniger als 1.500 Spontanhelfer auf die Straße. Sie beseitigten auf Straßen, Schulhöfen, Kitas- und Altenheimgeländen die Spuren des Sturms. Vor allem aber merkten sie, wie viel man gemeinsam für seine Stadt bewirken kann.

Nach dem Sturm geht es weiter

Markus Pajonk erinnert sich: „Viele von den Essenern, die wir mobilisiert hatten, fragten später: ‚Warum machen wir nicht einfach weiter?‘“ Gesagt, getan. Gute Ideen gab es schließlich genug: Die „Spielplatzhelden“ kümmerten sich um die Instandsetzung von Spielplätzen, die der Sturm beschädigt hatte. Im Frühjahr beseitigte eine Gruppe diverse Stauden Riesen-Bärenklau, eine Pflanze, die zu schweren Verbrennungen auf der Haut führt und sich rasant verbreitet. Zusammen mit der Kulturloge werden vereinsamte Menschen ins Theater, Stadion oder zu Konzerten begleitet.

„Jeder macht entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten mit“

Das Besondere an der Initiative fasst Pajonk so zusammen: „Wir sind kein Verein, arbeiten ohne Hierarchie und Mitgliedschaften. Jeder macht entsprechend seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten mit.“ Wo und wann der nächste Einsatz stattfindet, weiß Facebook. „Stand-by-Ehrenamt“ nennen die Freiwilligen aus Essen, das was sie da machen. Etliche der Aktiven haben inzwischen beim DRK oder THW, mit denen „Essen packt an“ kooperiert, ein dauerhaftes Engagement gefunden.

Judith engagiert sich bereits in ihrer Kirchengemeinde und administriert die Facebook-Seite mit. Ostern war sie dann zum ersten Mal bei „Warm durch die Nacht“ mitgelaufen. Die Aktion richtet sich an Wohnungslose. Ein Suppenfahrrad oder Bollerwagen hält eine warme Mahlzeit für all diejenigen bereit, die kein Dach über dem Kopf haben. Zusätzlich verteilen die Aktiven Kleidung, Hygieneartikel und auf besonderen Wunsch auch mal eine Mundharmonika oder etwas zum Malen. Die 56-Jährige ist seit der ersten Tour Feuer und Flamme für das Projekt: „Mit jedem Mal lernt man die Menschen besser kennen. Die warme Mahlzeit ist so etwas wie ein Türöffner, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen – das ist manchem wichtiger als etwas im Magen. Es ist schon irre, wie man mit ganz wenig so viel erreichen kann!“

Derweilen sondiert Markus Pajonk, der eigentlich als kaufmännischer Leiter arbeitet, die nächsten Aktionen. Zu viel verraten möchte der umtriebige Netzwerker noch nicht. Klar ist aber schon jetzt, dass sie die Essener noch näher zusammenbringen werden.

 

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

(Henrik Flor)

Münster flasht für die Inklusion

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Junge Tänzer und Tänzerinnen mit und ohne Behinderung, die meisten in schwarzer Kleidung, tanzen auf einer Bühne

„Heute ist der Flashmob, aber morgen und übermorgen wollen wir in ganz Münster tanzen!“ Die euphorischen Worte des Oberbürgermeister Markus Lewe lassen den Hafenplatz in Münster in Jubel ausbrechen. Weit über 1.000 Menschen mit und ohne Behinderung haben sich am 29. Mai 2015 dort versammelt, um zu zeigen, dass Inklusion viel mehr als nur ein Wort ist.

Musik braucht keine Worte und verbindet deshalb umso mehr. Deutschlands größter inklusiver Flashmob in Münster hat diese Weisheit bewiesen und setzt damit ein großes Zeichen für die Vielfalt in Deutschland. An diesem Tag ist der ganze Hafenplatz eine große Tanzparty. Die Stimmung ist ausgelassen, alle haben Spaß.

Tanztraining auf dem Stundenplan

Aber natürlich steckt auch hinter dieser Veranstaltung jede Menge Arbeit. Schon Monate vorher wurde die Choreographie des Flashmobs per Video in den sozialen Netzwerken verbreitet, damit jeder genug Zeit zum Üben hatte. In vielen Schulen der Umgebung von Münster stand in den letzten Wochen Tanztraining auf dem Stundenplan. Sogar ein eigener Song wurde für den Flashmob komponiert. Mit „Believe me“ hat die BandThe Roosenbarts“ einen Titel mit Potenzial zum Sommerhit beigesteuert

Dann beginnt die Musik und alle tanzen

Bei so viel Vorbereitung ist es natürlich kein Wunder, dass die Generalprobe auf dem Hafenplatz so gut läuft, dass sie eigentlich auch direkt aufgenommen werden hätte können. Vorher hat schon die Tanzgruppe „Body Control, Finalisten aus der FernsehshowGot to dance“, gezeigt, wie eine richtig coole Tanzperformance aussehen kann. Nach der geglückten Generalprobe wird es dann ernst. Die Tanzgruppe „Schwerelos“ macht sich auf der Bühne bereit, um die Tanzschritte vorzutanzen. Die Kameras, die an Kränen über die Köpfe der Menschen hinweg fliegen, werden angeschaltet. Einen kurzen Moment lang macht sich dann doch nochmal eine gewisse Aufregung breit. Dann aber beginnt die Musik und alle tanzen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. 

„Münster? Flasht!“

Das Video vom Flashmob soll um die Welt gehen, um zu zeigen, dass Inklusion auch Spaß machen kann. Damit alle verschiedenen Perspektiven von den Kameras eingefangen werden können, muss der Flashmob dreimal wiederholt werden. Die Drehpausen werden vom Moderator Hanno Liesner mit einer Menge guter Laune und dem Einüben eines Schlachtrufes im Kanon überbrückt: „Münster? Flasht!“ Für weitere Unterhaltung sorgt die Tanzgruppe „Funky Moves“, die von der begeisterten Menge sogar zu einer Zugabe aufgefordert wird.

Nachahmung erwünscht

Nach drei Stunden sind alle Aufnahmen im Kasten, und vor allem bei den Veranstaltern von Funky e.V. fallen sichtbar mehrere Steine vom Herzen, dass die Veranstaltung so ein großer Erfolg geworden ist. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass das Video vom Flashmob genauso erfolgreich wird und vor allem noch viele Menschen zu ähnlichen Aktionen inspiriert. Schließlich lebt die Inklusion nicht nur von gesetzlichen Bestimmungen, sondern vor allem durch Momente, die man miteinander erlebt.

 

Die Aktion Mensch fördert „Münster flasht“, den größten inklusiven Flashmob Deutschlands, mit 40.000 Euro.

 

Linktipps:

Münster flasht: Alle Infos und Videos zum inklusiven Flashmob in Münster auf der offiziellen Homepage

Sie haben auch eine tolle Projektidee? Informieren Sie sich hier über die Förderung der Aktion Mensch!

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

Behinderung ausgeblendet. Mirien Carvalho Rodrigues über Begegnungen in ihrem Job, bei denen ihre Blindheit kein Thema ist

Auf einen Abend in der Sushi-Bar. Blogbeitrag von Wiebke Schönherr über ein Treffen von drei besten Freundinnen – von denen eine Rollstuhl fährt

(Tanja Kollodzieyski)

Mission: lachende Kindergesichter

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Ein Mädchen und ein Mann werden von einem Mann in schwarzem Leder auf einem Trike gefahren.

Was tun, wenn sich Familien zurückziehen, weil sie ihre ganze Energie für die Pflege und Betreuung ihres Kindes brauchen? Die Elterninitiative Handicap Kidz aus Delbrück organisiert Spielfeste, Ausflüge mit der ganzen Familie oder eigene Schwimmzeiten im Hallenbad, um Familien zu mobilisieren und ihnen neue Kraft für den Alltag zu geben. 

Zum Spielfest auf dem Abenteuerspielplatz am Nordring waren nicht weniger als 1.000 Besucher gekommen. Dort konnten sie mit einem Trike fahren, auf der Hüpfburg toben, Beach-Volleyball spielen, reiten, bei Feuerwehr-Aktionen mitmachen, sich schminken, auf die Torwand schießen… Der größte Renner bei den Kindern, die selbst laufen können: mit einem der Rollstühle, die ein Orthopädie-Fachhändler bereit gestellt hat, durch einen Hindernis-Parcours manövrieren. Dabei erfuhren sie, wie auch kleine Hürden ein echtes Problem werden können.

Immer mittendrin sein

Organisiert hat das Spielfest die Elterninitiative Handicap Kidz. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Eltern und ihre Kinder – mit und ohne Behinderung – zusammenzubringen. Die Engagierten locken Eltern, die ein Kind mit Behinderung haben, aus der Reserve, gerade wenn es wenig Gelegenheit, Energie oder Mittel für Freizeitaktivitäten gibt. Günter Korder ist einer der aktiven Eltern und erzählt: „Meine 11-jährige Tochter nehmen wir überall mit hin – ins Restaurant, zum Shoppen oder auch mal zur Arbeit. Sie hat viel Spaß daran, immer mittendrin zu sein und für uns ist das auch ganz normal. Viele andere Eltern haben diese Möglichkeit aber nicht. Wenn zum Beispiel der Pflegebedarf des Kindes hoch ist und man sich permanent am Limit bewegt, dann fallen solche Dinge einfach schwer.“

Mit wenig Geld viel bewegen

Um Eltern und Kinder aus den eigenen vier Wänden zu holen, lassen sich die Engagierten von Handicap Kidz einiges einfallen. Da ist z.B. ein sonntägliches Familien-Frühstück, bei dem der Austausch im Vordergrund steht: Wie gelingt es, dass dem Kind die Reha bewilligt wird? Wie finanziert man das therapeutische Reiten, das so gut tut? Und da sind die geschützten Badezeiten im Schwimmbad. Hier können sich Kinder mit einer Behinderung ganz entspannt auf neues Terrain wagen. Eine Mutter bekannte: „Seit 15 Jahren waren wir das erste Mal wieder schwimmen, da mein Kind in den normalen Badezeiten regelrecht untergeht.‘“ Aber auch Angebote im Jugendtreff und Aktionstage im Familienzentrum gehören zum Programm, das die Eltern mit unbürokratischer Unterstützung durch die Stadt auf die Beine stellen.

Oberstes Gebot bei allen Angeboten: Sie sind kostenlos und sprechen alle betroffenen Familien an. Da ist es gut, dass die Vertreter der Elterninitiative ein besonderes Talent dafür haben, auch ohne viel Geld einiges zu bewegen. Wenn etwas fehlt, hängt sich Günter Korder, der sein Geld als Geschäftsführer verdient, einfach ans Telefon. Weitere Mitstreiter, die die Vision der Initiative teilen, sind immer willkommen.  Günter Korder bringt es auf den Punkt: „Primäres Ziel sind lachende Kindergesichter!“

 

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 16.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



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(Henrik Flor)

Wieder aufrecht gehen

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Eine Hand hält eine aufgeschlagene Zeitschrift mit dem Logo "Mein Werk"

In Wolfenbüttel engagieren sich auch Menschen mit psychischer Erkrankung. Sie helfen sich gegenseitig und noch ganz vielen anderen. Die Teilnehmer am Projekt „Mein Werk“ erfinden ihre eigenen Ehrenamtsprojekte und gehen ihren eigenen Weg in ein stabiles Leben.

Herr Gerstmann und die 14 anderen Mitglieder des Projekts haben eines gemeinsam: Sie wollten nach einem durchgetakteten Klinikaufenthalt nicht allein Zuhause sitzen und nichts tun. Sie wollten aktiv werden, etwas auf die Beine stellen, ihrem Leben eine Struktur geben. Und genau das tun sie auch. Im Rahmen des Projekts „Mein Werk“ gibt es inzwischen mehr als ein halbes Dutzend selbst initiierter Gruppen: Man singt gemeinsam, tauscht sich bei einem Kaffee aus, trainiert Hunde, macht Sport, spricht über Gesundheitsthemen, spielt, strickt, man hilft sich bei Umzügen oder beim Renovieren der Wohnung. Alles kann, nichts muss. Alle Ideen kommen von den Teilnehmern, nichts ist von oben aufgesetzt. Den Rahmen und Unterstützung, wann immer sie gebraucht wird, gibt die Freiwilligenagentur Jugend-Soziales-Sport e.V., die das Projekt in Wolfenbüttel ins Leben gerufen hat.

Gemeinsam etwas starten

Herr Gerstmann hat vor seinem Klinikaufenthalt als IT-Kommunikationstechniker gearbeitet. Jetzt hat er eine Sportgruppe initiiert und eine Kochgruppe gegründet. Der Mittvierziger erklärt: „Wir helfen uns gegenseitig, wo wir können. Der eine kann beispielsweise mit dem Pinsel umgehen, der andere kann Teppiche verlegen.“ Er schätzt vor allem den freundschaftlichen Austausch mit den anderen Teilnehmern. Manchmal ist die gemeinsame Aktivität schlicht der Aufhänger für ein gutes Gespräch, das Mutmachen bei Durchhängern oder das Feiern von Fortschritten. Und dann sind da noch die Begegnungen mit denjenigen, die eine ganz andere Geschichte haben, aber trotzdem gerne zum Dartspielen oder Kochen dazukommen. Beim Handarbeitstreff etwa haben sich gleich mehrere ältere Damen eingeklinkt, die jeden Kniff kennen und mit denen man ganz unangestrengt plaudern kann.

Die mehrstufige Rakete

Michael Fehst von der Freiwilligenagentur sieht das Projekt nicht zuletzt als Sprungbrett: „Die Teilnehmer starten ihre eigenen Projekte, gleichzeitig vermitteln wir auch Engagements in andere Einrichtungen oder in der Nachbarschaft. Im Idealfall stehen am Ende eine neue Stabilität und ein Selbstvertrauen, sodass sich eine Ausbildung und die Rückkehr in den Beruf anschließen können.“ Die Freiwilligenagentur begleitet diesen Prozess, moderiert, wo nötig, sucht passende Engagement-Möglichkeiten und berät Einrichtungen. Michael Fehst ist Ansprechpartner und Vertrauensperson für die Teilnehmer.

Der vollständige Name des Projekts „Mein Werk“ lautet: Mein Werk – Ich bin psychisch krank und ehrenamtlich tätig“. Wenn das für den einen oder anderen ein wenig trotzig, vor allem aber stolz klingt, liegt er genau richtig. Für Herrn Gerstmann ist sein Engagement bei „Mein Werk“ seine beste Entscheidung überhaupt: „Ich gehe seitdem wieder aufrecht!“

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.

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(Henrik Flor)

Sport frei!

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Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Wettkampfes präsentieren stolz ihre Medaillen

Das inklusive Sportabzeichen können Interessierte dieses Jahr in vier verschiedenen Städten ablegen. Die erste Station der Deutschen Sportabzeichen-Tour war am letzten Freitag in Berlin.

Es ist ein herrlicher Sommermorgen auf dem Sportplatz im Norden Berlins: Die Sonne scheint, keine Wolke am blauen Himmel. Von der Tribüne schallt Musik über den Platz auf dem Rasen, der von der 400-Meter-Laufbahn umgeben ist. Am Rand wärmen sich die Sportler und Sportlerinnen auf. Das sind an diesem Vormittag Schulklassen und Gruppen aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Sie möchten das Deutsche Sportabzeichen für Menschen mit und ohne Behinderung ablegen. Das ist die Auszeichnung des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) für vielseitige körperliche Leistungsfähigkeit. Eine Gruppe, die sich der sportlichen Herausforderung stellt, ist die der VIA-Werkstätten: neun Männer und drei Frauen, zwischen 20 und 50 Jahre alt. Je eine Sportart aus den vier Kategorien ist zu absolvieren: Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination.

Kraft zeigen

Die erste Station der Gruppe ist Weitsprung, alle machen einen Probesprung. Der erste ist Robert Heinz, er schafft auf Anhieb 1,88 Meter. „Das ist ja schon Bronze“, ruft er erfreut. Melanie Hartmann, die Fotografin in der Gruppe, sagt nach ihrem zweiten Sprung: „Ich geb auf. Erst 1,40 Meter, jetzt nur noch 1,35 Meter.“ Das findet die 20-Jährige schlecht. Auch der dritte Versuch geht nicht weiter. Ihre Enttäuschung ist groß. „Weitsprung war schon mal gut“, sagt der 27-jährige Denis Scharnowski während die Gruppe über den Rasen zum Kugelstoßen läuft. „Ich habe schon ein Abzeichen in Silber und eins in Bronze. Noch aus der Schule. Jetzt will ich eigentlich Gold.“

Hoch hinaus

Beim Kugelstoßen erklärt ein ehrenamtlicher Mitarbeiter des DOSB die Technik: „Weit nach oben stoßen“, sagt er und zeigt auf die Baumwipfel hinter der Sandgrube. „In die Richtung.“ Melanie Hartmann nimmt eine Kugel. „Oh, ist die schwer“, sagt sie und stößt sie weit von sich: hoch und weit. 5,50 Meter. „Juchu“, ruft sie. Bei Denis Scharnowski klappt es nicht so gut. 5,03 Meter. „Nicht mal Bronze“, sagt er und reibt sich am Arm.

Genau zielen

Als nächstes ist Schnelligkeit dran. Die Gruppe geht zum 100-Meter-Lauf. „Endlich“, freut sich Nico Riedel, ein drahtiger, junger Mann. „Ich bin ein Sprinter. Für Kugelstoßen bin ich nicht stark genug.“ Er spiele ja auch Fußball, wie die meisten in der Gruppe. Weil beim 100-Meter-Lauf aber so viele andere warten, geht die Gruppe weiter zum Zielwerfen – eine Sportart der Koordination. Auch hier werden zuerst die Regeln erklärt: Aus sieben Metern Entfernung soll man einen kleinen Ball in eine Zielscheibe auf dem Boden werfen. Wer in die Mitte trifft, bekommt sechs Punkte, im Ring daneben gibt es drei und ganz außen einen. Denis Scharnowski trifft mit dem Probewurf gleich in die Mitte. „Das war ja leicht“, ruft er und hat wieder gute Laune. Sechs Mal darf jeder werfen, fünf Würfe werden gewertet. Nico Riedel wirft den Ball gleich fünf Mal in die Mitte und bekommt die Höchstpunktzahl. Melanie Hartmann schafft 24 Punkte und ist zufrieden. „Zielwerfen war schön“, sagt sie danach. „Viel besser als Weitsprung.“ Beim Zielwerfen ist die Stimmung super, alle schaffen eine hohe Punktzahl. „Gold, Silber oder Bronze, das ist doch eigentlich egal“, sagt Melanie Hartmann. „Wichtig ist doch, dass wir alle Spaß haben und zusammen hier sind, mit den Kollegen.“

 

Bei drei weiteren Tour-Stopps steht diesen Sommer das Thema Inklusion im Mittelpunkt. Bei diesen Terminen können Sportler mit und ohne Behinderungen "Hand-in-Hand" ihr Sportabzeichen ablegen.

Die weiteren inklusiven Stopps der diesjährigen Sportabzeichen-Tour:

14. Juli - Bremen

16. Juli - Kaiserslautern

24. Juli - Rosenheim

 

 

Linktipps:

Alle Infos zu den weiteren inklusiven Tour-Stopps des DOSB-Sportabzeichens in Bremen, Kaiserslautern und Rosenheim

Mehr zum Thema Freizeit, Sport und Inklusion bei der Aktion Mensch

Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination. Katja Hanke über das DOSB-Sportabzeichen für Menschen mit Behinderung

Spiel, Spaß, Inklusion. Eva Keller über die Arbeit des DOSB für die Inklusion in den Sportvereinen

Selbstbewusstsein durch Sport. Michael Herold über seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem Thema Sport

Teilhabe durch Sport. Michael Wahl im Interview mit Dr. Volker Anneken vom FIBS über Inklusion im Breitensport

Wettkampf-Teilnehmer beim KugelstoßenLachende Wettkampf-Teilnehmer signalisieren ein Siegeszeichen mit den HändenWettkampf-Teilnehmer beim KugelstoßenWettkampf-Teilnehmer liegen bei Dehnübungen auf einer WieseEin Teilnehmer wärmt sich für den Wettkampf aufEinige Sportler unterhalten sich miteinanderLachende Teilnehmer bei DehnübungenZwei Männer halten sich bei Aufwärmübungen an den Händen

(Katja Hanke)

Vorstellungsgespräche fürs Leben

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Bloggerin Tanja Kollodzieyski zusammen mit ihrer Assistentin

Wow, du hast ja viele Sachen in Pink!“ – Ein Satz, mit dem man nicht unbedingt jedes Vorstellungsgespräch beginnen sollte, aber jetzt lachen wir beide. Das erste Eis ist gebrochen, und für mich ist das der beste Anfang des Einstellungsgesprächs. Aber ich suche schließlich auch keine Mitarbeiter für ein Unternehmen. Ich stelle Leute ein, um mein Leben zu führen.

Mein Unternehmen ist mein Leben. Dieses Motto, das für die meisten anderen Menschen zwischen Inspiration und leeren Worthülsen hin und her schwingt, gilt für mich wortwörtlich und damit natürlich auch im Umkehrschluss. Mein Leben ist (m)ein Unternehmen. Aufgrund starker körperlicher Einschränkungen kann ich viele Sachen nicht selbst erledigen, deswegen brauche ich Assistenten, die mir helfen, mein Leben so uneingeschränkt wie möglich zu führen. Diese Tatsache bringt mich auch immer wieder in die ungewohnte Lage, Einstellungsgespräche zu führen.

Sympathie als Einstellungskriterium

Die größte Herausforderung dabei ist, dass ich mich dabei auf keine allgemeinen Einstellungskriterien stützen kann. Fachwissen und Erfahrungen bringen zwar auch im Assistenzbereich keine Minuspunkte, aber sie helfen eben auch nicht unbedingt weiter. Der beste Lebenslauf bedeutet nichts, wenn man nicht auf der gleichen Wellenlänge liegt. Letztendlich ist und bleibt die Sympathie gegenüber den Bewerbern das wichtigste Maß, was ich bei der Jobvergabe zur Verfügung habe.

Dieses Merkmal versuche ich auch gleich in die Ausschreibungen einfließen zu lassen, indem ich darum bitte, dass Interessenten mir einfach eine lockere Email mit Infos über sich schreiben, anstatt einer formalen Bewerbung. Diese Anforderung ist erstaunlicherweise für die Meisten gleich die erste große Hürde, die sie überwinden müssen. Den meisten Mails merkt man direkt an, wie sehr die Schreiber verunsichert waren, weil sie sich nicht auf Standardformen verlassen konnten.

Beim Probearbeiten alle Hüllen fallen lassen

Ich muss dann immer ein bisschen lächeln, wenn ich bemerke, wie schwer es für die meisten Menschen ist, fremden Leuten etwas über sich zu erzählen. Das ist auch etwas, was man relativ schnell lernt, wenn man das eigene Leben zum Unternehmen machen muss. Schon die Stellenbeschreibung besteht naturgemäß aus einer Listen an Dingen, die ich nicht tun kann, und ist damit privater als das, was die meisten Menschen ihren Freunden anvertrauen. Davon abgesehen, dass die meisten Bewerbungsgespräche in meinem Wohnzimmer stattfinden und auf diese Weise sowieso jede Menge über mich verraten wird. Wenn es zum Probearbeiten kommt, ist es für mich ohnehin an der Zeit, alle Hüllen fallen zu lassen.

Auf diese Weise wird jedes Vorstellungsgespräch für mich zu einer Präsentation meines Lebens. Das mag für viele befremdlich klingen, aber in Wahrheit bringt es immer auch eine große Chance mit sich. Wer keine Möglichkeit hat, sich zu verstecken, erinnert sich wieder leichter an den folgenden Grundsatz: Fremde Menschen sind auch nur Menschen, denen man bisher noch nicht begegnet ist.

 

 

Linktipps:

Gar nicht so einfach: Leben mit Assistenz. Anastasia Umrik über tolle und schwere Momente im Leben mit Assistenz

Leben mit persönlicher Assistenz. Petra Strack über den Unterschied zwischen Betreuung und Assistenz

Ziemlich beste Assistenten. Ein Blogbeitrag von Raúl Krauthausen über den Kinofilm „Ziemlich beste Freunde“ und das Leben mit persönlicher Assistenz

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

Behinderung ausgeblendet. Mirien Carvalho Rodrigues über Begegnungen in ihrem Job, bei denen ihre Blindheit kein Thema ist

Auf einen Abend in der Sushi-Bar. Blogbeitrag von Wiebke Schönherr über ein Treffen von drei besten Freundinnen – von denen eine Rollstuhl fährt

(Tanja Kollodzieyski)


Ein Garten für alle Sinne

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Mehrere fliederfarbene Blüten

Ein Garten, in dem sich blinde Menschen optimal orientieren und alle möglichen Pflanzen ertasten und am Duft erkennen können – das war lange der Traum eines Bremer Gärtner-Ehepaares. Seit 25 Jahren gibt es den einzigartigen Blindengarten – aber wie lange noch?

Edith Kranz hat schon ihr ganzes Leben lang mit angepackt: In der Gärtnerei und dem Blumengeschäft ihres Mannes und bei der Verwirklichung des gemeinsamen Traums: einen Blindengarten in Bremen auf die Beine zu stellen. Mit 84 Jahren ist sie noch immer Kassenwartin des Vereins, der sich um den Erhalt der grünen Oase kümmert.

Langer Atem und gute Kontakte

Dabei musste das Ehepaar eine ganze Menge Hartnäckigkeit beweisen, ehe es mit dem Bau des Gartens losgehen konnte. „Zahlreiche Zusagen für ein Grundstück, die von der kommunalen Verwaltung kamen, wurden wieder zurückgezogen. Und auch finanzielle Unterstützung gab es keine“, erinnert sich Edith Kranz. So beschlossen die Kranz‘, das Projekt ganz in Eigenregie umzusetzen. An die 800 „Bettelbriefe“, wie Edith Kranz es nennt, verschickten sie. Es dauerte dann gerade einmal drei Monate, bis Unternehmen und Privatleute sämtliche notwendigen Arbeitsleistungen, Materialien und Geldspenden zugesagt hatten. Mit dem 1.500 qm großen Grundstück im Stadtteil St. Magnus war auch der richtige Ort gefunden.

1988 konnte es dann endlich losgehen. Ein Bagger rollte an und begann mit den Erdarbeiten. Edith Kranz und ihr Mann legten die Beete an. Diese sind mit Palisaden eingegrenzt und haben eine Höhe von 80 cm. So erreicht man die Pflanzen besser zum Fühlen und Riechen. Es wurden drei rollstuhlgerechte Zugänge eingerichtet und die Wege mit unterschiedlichen Belägen versehen, die bei der Orientierung helfen. Insgesamt gibt es 16 Beete, unter anderem mit Nadelhölzern, Gräsern, Farnen, Heidegewächsen, Wildpflanzen, Kletterern und Rankern oder Duftpflanzen. Tafeln mit Braille-Schrift erklären das Grün. Bei der Konzeption stimmten sich die Initiatoren eng mit dem Bremer Blindenverein ab.

Der Garten als Treffpunkt

Ein Jahr später konnte der erste Blindengarten in Deutschland eröffnet werden, der ganz ohne öffentliche Gelder entstand, dafür aber mit jeder Menge Unterstützung von Freiwilligen, Firmen und Vereinen. Der Garten ist für jedermann offen – ob mit oder ohne Behinderung – und versteht sich als Ort der Begegnung.

Um den Erhalt des Gartens kümmert sich der eigens gegründete Blindengarten Bremen e. V. Derzeit ist es vor allem Heidi Ganser-Drejka, die sich um die Gartenpflege kümmert. Zusätzlich packt ein Landschaftsgärtnereibetrieb regelmäßig mit an. Und dann gibt es noch die Mitglieder der örtlichen CDU und SPD, die sich einmal im Jahr engagieren.

Doch die meisten, die den Verein tragen, sind inzwischen im Rentenalter. Ohne Verjüngungskur wird es den Verein nicht mehr lange geben. Damit steht auch die Existenz des Blindengartens auf dem Spiel. Für Edith Kranz ist klar: „Jetzt sind die Jüngeren dran!“ Wer sich also für die Idee des Blindengartens begeistern kann und Spaß am Gärtnern hat, möge sich beim Verein melden.

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



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(Henrik Flor)

Freiwilligendienst – ein Jahr in Kamerun

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Eine Gruppe Frauen schaut in die Kamera.

„All inclusive“ steht eigentlich für günstigen Pauschalurlaub, für die Art von Sorglos-Ferien, bei dem nichts an Komfort fehlt. Das Programm „weltwärts alle inklusive“ ist das genaue Gegenteil. Die Engagierten, die in alle Welt ausschwärmen, setzen sich ein Jahr lang für andere ein und werden mit Erfahrungen belohnt, die man in keiner Club-Anlage machen kann.

Nicht viele 27-Jährige können von sich behaupten, ein Studium durchgezogen zu haben, ein Jahr Freiwilligendienst in Afrika erlebt zu haben und gerade auf dem besten Weg zu sein, in den diplomatischen Dienst einzutreten. Julia Zimmermann schon. Während ihres Freiwilligendienstes hat sie ein Jahr in Kamerun verbracht und dort in einer großen gemeinnützigen Organisation gearbeitet. „Ziel der Arbeit war die Verbesserung der Lebensbedingungen etwa von Menschen mit HIV/AIDS, Teenager-Müttern oder Menschen, die sich mit einem Mikrokredit eine Existenz aufbauen wollen“, erzählt Zimmermann. In ihrer täglichen Arbeit hat sie vor allem Frauen dabei unterstützt, sich selbstständig zu machen, also Kurse in Buchhaltung gegeben, budgetiert und eingekauft oder Beratungsgespräche geführt. Nicht so schnell vergessen wird sie den Vortrag über Syphilis, den sie vor den Insassen eines Gefängnisses gehalten hat.

Das inklusive Freiwilligenprogramm

Das Organisatorische ihres Freiwilligenjahrs in Kamerun hat der Verein bezevübernommen. Der Name steht für „Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V.“ und setzt sich für eine gleichberechtigte Beteiligung von Menschen mit Behinderung an entwicklungspolitischen und humanitären Initiativen ein. Dessen Programm „weltwärts alle inklusive“ passte für Julia Zimmermann perfekt. Sie hat eine Sehbehinderung und besitzt eine Restsehfähigkeit von 10 Prozent. Das heißt zum Beispiel, dass wenn sie etwas liest, sie das Schriftstück sehr nah an die Augen halten muss. Seit 2013 lassen sich jedes Jahr rund 18 Freiwillige auf das Abenteuer „weltwärts alle inklusive“ ein.

Trotz der engen Begleitung hatte für Julia Zimmermann die erste Zeit etwas von dem berühmten Sprung ins kalte Wasser: „Als wir nachts am Flughafen von Douala ankamen, war alles anders und neu – die Orientierung fehlte. Doch das wurde schnell anders“, erinnert sich Zimmermann. Sie gewöhnte sich schnell an die kleinen Widrigkeiten wie Stromausfälle oder instabiles Internet – und an die manchmal anderen Gepflogenheiten.

Durchstarten nach dem Auslandsjahr

Nach dem Freiwilligenjahr stand für Julia Zimmermann fest, dass sie international arbeiten will. Im harten Auswahlverfahren des Auswärtigen Amtes konnte sie sich durchsetzen und ist nun Anwärterin im gehobenen Dienst. Ihr Tipp für alle, die sich für ein Freiwilligenjahr im Ausland interessieren: Vorab gut informieren, welche Entsendeorganisationen es gibt und welchen Ruf sie haben. Davon hängt entscheidend ab, wie viel man von dem Aufenthalt mitnehmen wird.

Die Bewerbungsfrist für einen Freiwilligendienst bei bezev, der ab Sommer 2016 beginnt, läuft noch bis zum 30.9.2015.

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.

Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

Linktipps:

Von Buenos Aires zur Seidenstraße. Ein Blogbeitrag über den Senior Expert Service

Blind und "Bufdi"? Steffi Lisker zeigt, wie es geht.

Schule vorbei – und jetzt? EIn Blogbeiträge über Engagementmöglichkeiten nach dem Schulabschluss.

(Henrik Flor)

Familienreise, inklusiv

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Blick durch eine Heckscheibe in ein vollgepacktes Auto, ganz vorne liegt ein Schild mit der Aufschrift "Summertime"

Sommerzeit ist Reisezeit. Menschen mit und ohne Behinderung sind unterwegs und begegnen einander. Familien mit behinderten Kindern müssen vorab besondere Fragen klären: Passt der Sauerstoff-Tank ins Auto? Kann die Lieblingsmitarbeiterin des Pflegedienstes mitkommen? Mareice Kaiser nimmt uns mit auf eine Familienreise mit besonderen Herausforderungen.

„Behinderte Kinder sollen alles machen, was auch nicht behinderte Kinder machen!“, meinte die ehemalige Physiotherapeutin von Kaiserin 1 und stellte sie kurzerhand auf den Kopf. Meine Tochter gluckste vor Freude! Leider sind nicht alle Dinge, die alle Kinder machen, für behinderte Kinder selbstverständlich – und manche funktionieren schlicht und einfach nicht. Dabei kommt es natürlich immer ganz individuell auf das Kind, die Behinderungen und die oft damit einhergehenden Erkrankungen an.

Mit Kaiserin 1 sind viele Aktivitäten möglich – wir benötigen dafür aber zusätzliche Hilfe. Ein Spielplatzbesuch alleine mit ihr und ihrer Schwester ist zum Beispiel sinnlos bis unmöglich. Kaiserin 2 braucht ja auch noch viel Betreuung, kann noch nicht alleine rutschen oder schaukeln. Kaiserin 1 kann noch nicht lange frei sitzen und nicht gehen, daher kann sie auch nicht alleine rutschen oder schaukeln. Es muss immer eine Betreuungsperson für Kaiserin 2 dabei sein, damit auch sie schaukeln oder rutschen kann – was sie liebt. Entweder ist also der Kaiserinnen-Papa dabei, oder die Einzelfallhelferin von Kaiserin 1 oder eine Freundin.

Wir haben es gewagt

Eine weitere Herausforderung ihrer Pflege ist der Sauerstoffbedarf, den sie hat, während sie schläft. Ein kleiner Monitor, der mit einem Sensor an ihrem Fuß verbunden ist, zeigt uns an, ob sie die zusätzliche Portion Sauerstoff braucht oder nicht. Mit all diesen Herausforderungen haben wir es im vergangenen Jahr gewagt: eine Reise mit beiden Kindern. Wir haben Berlin verlassen, alles eingepackt, was wir für eine Woche brauchen. Der ganze Hausflur stand voll, das Auto bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgepackt. Wir schleppten ein halbes Krankenhaus mit: Sauerstoff-Flaschen, einen Sauerstoff-Tank, Geschwisterkinderwagen, Sondenkost, ein Absaugegerät, einen Sauerstoff-Monitor, einen Therapiestuhl (denn nur in ihm kann Kaiserin 1 stabil sitzen), eine Wippe und dann noch den üblichen Babykram wie Windeln, Wundcreme & Co.

Ziel unserer Reise war ein Treffen mit anderen Familien mit behinderten Kindern – wir waren also nicht die einzigen, die mit besonderen Herausforderungen durch Deutschland reisten. Neun Stunden Autofahrt wollten wir weder uns noch den Kindern zumuten, daher entschieden wir uns für einen Zwischenstopp in Niedersachsen bei den Großeltern der kleinen Kaiserinnen. Kaiserin 1 gluckste in den Armen ihrer Oma, Kaiserin 2 jauchzte im Bollerwagen, gezogen vom Opa. Schon allein für diese Momente hatten sich die Strapazen der Autoreise gelohnt.

Die erste Etappenstrecke mit dem Auto verlief besser als gedacht: kein Stau, viel Schlaf auf den hinteren Plätzen. Ein Halt an einer Raststätte mit riesengroßer blitzblanker behindertengerechter Toilette (große Freude bei Mutter und Kind!), ein Halt im niedersächsischen Niemandsland mit Outdoor-Wickeltisch – schon waren wir da. Nach zwei Tagen machten wir uns auf den Weg bis zum Ziel im Rhein-Main-Gebiet; für unsere Reiseplanung war uns immer wichtig, ein Krankenhaus in der Nähe zu wissen. Der gesundheitliche Zustand von Kaiserin 1 ist sehr fragil, so dass wir immer auf alles eingerichtet sein müssen.

Anderssein war hier normal

Bei dem Familientreffen angekommen entdeckten wir, dass die anderen angereisten Familien mit den gleichen Herausforderungen angereist waren. Rollstühle wurden aus Autos geladen, Spritzen für die Sondenkost lagen beim Essen auf den Tischen, die Familien verständigten sich viel in Gebärdensprache. Anderssein war hier normal. Wir fühlten uns sehr willkommen und sind bis heute dankbar für die vielen Begegnungen mit Familien, die die gleichen Themen bewegen. Ganz abgesehen von Kaiserin 1 und ihrer kleinen Schwester, denen der Kontakt zu den anderen inklusiven Familien gut tat.

Ja, es ist manchmal strapaziös, mit einem mehrfach behinderten Kind unterwegs zu sein. Aber es lohnt sich auch immer. Auch – und vor allem! – fürs Kind.

 

Linktipps:

Behinderung versus Bedürfnis. Mareice Kaiser über ihre zwei Töchter mit „Special Needs“ – mit und ohne Behinderung

Szenen aus dem Leben mit einem behinderten Kind. Mareice Kaiser über „Behinderte Momente“ im Leben ihrer Tochter

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

Mehr zum Thema „Urlaub und Begegnung“ beim Familienratgeber

Zwei Kleinkinder von hinten am Frühstückstisch

(Mareice Kaiser)

„Verzwickt, aber immer wunderschön!“

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Drei Kinder knien vor einem Huhn und füttern es mit Körnern.

Ein Natur- und Begegnungs-Bauernhof in Waltrop steht Kindern und Jugendlichen die ganze Woche offen. Sie füttern Tiere, lernen Pflanzen kennen, säen, ernten, kochen, basteln und reiten. Ein Freiwilligen-Team kümmert sich darum, dass hier jeder seinen Platz findet.

Noch vor ein paar Jahren hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass hier, Am Rapensweg in Waltrop, ein Bauernhof-Idyll entstehen könnte, durch das kreuz und quer Kinder, Schweine, Hühner, Lämmer und Schafe laufen. Damals war das Gelände eine Brache mit ein paar heruntergekommenen Ställen für eine Handvoll vernachlässigter Pferde. Der Verein Nabeba e. V. pachtete das Gelände, Freiwillige renovierten zusammen mit Kindern und Jugendlichen das Haupthaus und die Ställe, setzten Zäune instand und schufen so einen besonderen Ort, an dem niemand ausgeschlossen ist. Heute gibt es ein Kaninchenhaus, die Lagerfeuerstelle, den Biogarten, einen Schweinestall, das Bienenhaus, Freigehege und die Forscherwerkstatt – eine wunderbare Mischung aus Bullerbü und Abenteuerspielplatz. Jeden Montag trifft sich die integrative Kindergruppe, am Freitag sind Jugendliche mit und ohne Behinderung dran, zwischendurch kommen Kitagruppen und Schulklassen oder Eltern, die ihre Kinder zum therapeutischen Reiten bringen.

Das Beste aus der Natur

Dorothee Zijp ist eine von 15 Engagierten und wohnt inzwischen sogar mit ihrem Mann, einem der Söhne und der Mutter mit Blick auf das Gelände. Die Philosophie der Vollzeit-Engagierten: „Die Natur hält alles bereit, was wir für das Projekt brauchen. Das Heilsame, das sie ausstrahlt, die Wärme der Tiere, die Gerüche – das alles wirkt auf jeden Menschen gleich. Da ist es egal, ob er in irgendeiner Weise eingeschränkt ist.“ Dorothee Zijp hält den Bauernhof zusammen und guckt bei jedem, der seine Freizeit in das Projekt einbringen will, wo er richtig platziert ist: beim Versorgen der Gänse, der Betreuung von Kindergruppen oder beim Reiten? Einige der Ehrenamtlichen haben früher selbst den integrativen Treff besucht oder ein Praktikum gemacht und sind dann ins Engagement reingewachsen.

Ohne Druck, aber hoch engagiert

Debbie ist eine von ihnen und schon seit ein paar Jahren dabei. Alles begann mit einem Schulpraktikum, das der 20-Jährigen so gut gefallen hat, dass sie nun im Rahmen einer geförderten Maßnahme jeden Tag mit anpackt. Sie erzählt: „Am meisten Zeit verbringe ich mit den Pferden. Ich hole Wasser, füttere sie, striegel. Ich kümmere mich aber auch darum, dass das Schwimmbecken für die Enten sauber ist.“ Sie hat einen guten Draht zu anderen Engagierten und mag das Arbeiten in der Natur und ohne Druck. In den Pausen findet man sie meist auf dem Rücken von Bulle Berti. Wenn der sich zu einem Nickerchen niedergelassen hat, lässt sich Debbie auf dem Kraftpaket nieder und genießt die Nähe des Tieres.

Trotz des vielen Lobs von allen Seiten ist es alles andere als einfach, das Ehrenamtsprojekt über die Jahre zu bringen. Dorothee Zijp bringt die Erfahrung aus inzwischen acht Jahren Naturwerkstatt so auf den Punkt: „Geld ist nie genügend da. Oft ist es verzwickt und schwer, aber immer wunderschön!“

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

(Henrik Flor)

Sportfest inklusiv - gemeinsam Spaß am Sport

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Jugendliche in Rollstühlen fahren einem großen roten Ball hinterher

Am Wochenende lockte das inklusive Sportfest SPINK 2.500 Teilnehmer und Teilnehmerinnen nach Hamburg – auch Michel Arriens war im Millerntor-Stadion dabei.

„Hauptsache zusammen Spaß haben, egal ob mit oder ohne Behinderung“, antwortet Arian, als ich ihn nach seinen Zielen für heute frage. „Ganz normal eben“, fügt sein Kumpel Paul noch hinzu. Die beiden Schüler von der Erich-Kästner Schule sind zusammen mit 2.500 angemeldeten Teilnehmern und Teilnehmerinnen durch halb Hamburg gefahren, um an dem zweitägigen, inklusiven Sportfest SPINK im Millerntor-Stadion teilzunehmen.

„Heute bin ich nur ein bisschen behindert“

Bereits von weitem leitete mich eine Mischung aus Jubelgesängen und den Geräuschen ineinander fahrender Rollstühle zum Vorplatz des Millerntor-Stadions. Kaum hatte ich mir meine Laufkarte mit den Stationen um den Hals gehängt, da saß ich mit meinem Mitspieler auch schon am Tisch von „Dialog im Stillen“. Finn musste schalldichte Kopfhörer aufsetzen und anhand meiner Lippen- und Handbewegungen eine Figur aus Holzklötzen bauen. Das war gar nicht so einfach. Umso stolzer war er, als er erfuhr, dass das bisher nur zwei Teilnehmerinnen vor ihm geschafft hatten.

Beim „Dialog im Dunkeln“ fuhr ich mit blickdichter Brille und Blindenstock beinahe Mia um, die offensichtlich gerade vom Schminken kam. Während sie mir erzählte, dass sie das Down-Syndrom hat, hielt sie mir stolz ihren Schwerbehindertenausweis vor die Nase. „Heute bin ich aber nur ein bisschen behindert, ich hatte nämlich gerade eine Knie-OP“, sagte sie noch, bevor sie winkend in der vorbeilaufenden Menge verschwand.

„Es geht um persönlichen Erfolg, nicht um Sieg“

Nach einer Tanzperformance vom LUKULULE e.V. und einem Konzert von Blind & Lame unterhielt ich mich einige Zeit mit Anastasia und Kathrin vom Modelabel inkluWAS, die mit ihrem Design für Vielfalt werben. Da aber noch einige Häkchen auf meiner Laufkarte fehlten, stärkte ich mich zunächst am Getränke- und Obststand, um mit neuer Kraft bei „Need for Speed“ Rollstuhlrennen zu fahren.

In Zusammenarbeit mit den Special Olympics Deutschland wurden im Stadion auch wettbewerbsfreie Disziplinen nach dem Motto „Erfolg statt Sieg“ angeboten. Während ich meine Übungen absolvierte, wurde die Stationsbetreuung aufgefordert, mich vom Rasen zu holen und daran erinnert, dass der Zutritt zum Rasen für bereifte TeilnehmerInnen aus Schutzgründen verboten sei. Im anschließenden Gespräch mit dem Leiter des Stadions vom FC St. Pauli empfahl ich ihm für 2016, den Rasen ganz aus dem Angebot für SPINK zu streichen – zumindest unter diesen Bedingungen. Inklusion bedeutet am Rand stehen nämlich nicht.

Erste Goldmedaille

Am Ende hatte ich neben Blindenfußball, Rollstuhlparcours, Armdrücken und 12 weiteren sportlichen Stationen auch ein künstlerisches und musikalisches Rahmenprogramm aus Konzerten, Tanzeinlagen und Mode hinter mir. Unter dem Motto „Gemeinsam stark“ hatten alle Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten auszutesten und neue Fähigkeiten oder Vorlieben zu entdecken. Das Thema Behinderung hat an diesem Tag für niemanden so wirklich eine Rolle gespielt, „ganz normal eben“ – so, wie man es sich ja auch wünscht. Völlig erschöpft hielt ich auf dem Rückweg meine erste Goldmedaille für Sport, Spaß & Inklusion in den Händen. Mein Wunsch wäre, dass Schulen die Idee eines inklusiven Sportfests ernst nehmen und sie in ihren regulären Schulalltag einfließen lassen – denn Sport kann definitiv allen Spaß machen!

 

Linktipps:

Mehr Infos zum inklusiven Sportfest SPINK in Hamburg

Mehr zum Thema Freizeit, Sport und Inklusion bei der Aktion Mensch

Sport frei! Katja Hanke über die inklusive Sportabzeichen-Tour des Deutschen Olympischen Sportbundes

Spiel, Spaß, Inklusion. Eva Keller über die Arbeit des DOSB für die Inklusion in den Sportvereinen

Selbstbewusstsein durch Sport. Michael Herold über seine ganz eigenen Erfahrungen mit dem Thema Sport

Ein lachender Junge in einem großen aufblasbaren PlastikballKinder und Jugendliche mit Blindenstöcken und AugenbindenDas Duo "Blind & Lame" beim Auftritt auf der BühneZwei lachende Mädchen beim ArmdrückenZwei Jugendliche beim RollstuhlrennenKinder angeln Bade-Entchen aus einem SchwimmbeckenZwei Mädchen laufen in einem Stadion um die Wette und balancieren dabei Tischtennisbälle Kinder spielen Blindenfußball

(Michel Arriens)

Behindert und erfolgreich? Kein Widerspruch!

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Positiv mit einer Behinderung umgehen, sie sogar als Vorteil wahrnehmen? Klar! Johannes Mairhofer hat Menschen getroffen, für die das kein Widerspruch ist.

#keinwiderspruch – so heißt das Projekt und die Webseite von Johannes Mairhofer. Wenn ihr die Seite besucht, lernt ihr etwa 30 Menschen kennen, die keine Lust darauf haben, in die „trotz der Behinderung“-Schublade gesteckt zu werden. In persönlichen Texten erzählen sie, was ihre Behinderung für sie bedeutet.

Hier könnt ihr (gekürzte) Auszüge aus drei der Texte lesen:

Raul Krauthausen

Raul Krauthausen: Anders und humorvoll

Auf den ersten Blick finden andere Menschen meine Erscheinung oft widersprüchlich. Vor allem bei Kindern kann man immer wieder das gleiche Phänomen mitverfolgen: Wie sie staunen und in ihren Köpfen mit offenem Mund nach der passenden Kategorie für mich suchen, wenn sie einer bärtigen männlichen Person mit einer kinderähnlichen Statur im wörtlichen Sinne auf Augenhöhe begegnen. „Du siehst ja witzig aus“, platzte neulich ein kleines Mädchen anstelle einer üblichen Begrüßung heraus, als würde sie ein besonders kreatives Faschingskostüm loben. Nach einem kurzen Moment der Sprachlosigkeit fand ich diese geradlinige und kindlich-enthusiastische Reaktion doch sehr erheiternd. Und: Ihr spontan geäußertes Urteil beschreibt mich eigentlich ganz gut: anders und dabei humorvoll. Und eben nicht „anders, aber …“.

Lisa Schmidt

Lisa Schmidt: Glückliche Rollifahrerin

Bis vor einem Jahr bin ich ausschließlich gelaufen – erst ohne, später mit Krücken. Als Kind wurde ich noch bis ins Grundschulalter bei längeren Strecken mit einem Buggy durch die Gegend geschoben. Später bin ich mit einem Tretroller durch den Supermarkt geflitzt. Heute frage ich mich: warum denn kein Rollstuhl? Eine Mutter mit einem Kind im Buggy ist nichts Ungewöhnliches, aber eine Mutter mit Kind im Rollstuhl? Und ein Teenie mit Krücken? Kann schon mal passieren, die hat sich sicher nur das Bein gebrochen. Und ein Rolli sähe ja eh „total behindert“ aus.

Diese Einstellung habe ich zum Glück geändert. Vor einem Jahr war ich in der Reha – ich wollte die Krücken loswerden! Genau genommen habe ich das auch geschafft, nur anders als ich es mir vorgestellt habe. Es ging mir darum, endlich die Hände frei zu haben, mal ‘nen Koffer oder Einkaufswagen schieben zu können. In der Reha wurde mir, wie schon so oft zuvor, ein Rollstuhl für weitere Strecken nahegelegt. Diesmal habe ich es probiert – und das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens!

Michael Herold

Michael Herold: Geht nicht, gibt’s nicht

Der größte und auch älteste meiner Träume war, in einem Flugdrachen zu fliegen. Ich rief über Wochen bei Flugschulen und Vereinen an und schilderte meine Lage – immer mit dem Ergebnis, dass es nicht ging, weil „du schon ein paar Schritte rennen musst“. Wieder und wieder die gleiche Absage. Irgendwann dann aber: „Ja klar, das kriegen wir irgendwie hin. Hast du am Sonntag Zeit?“

An diesem Sonntag segelte ich auf 1.000 Meter Höhe in einem Flugdrachen. Ein Tandemflug, denn in Deutschland braucht man dafür einen Flugschein. Dort oben war absolute Stille, es gab keinen Lärm, keine Autos, keine Telefone – nur den Wind, der mir ins Gesicht blies. Dann ist etwas passiert, womit ich nicht gerechnet hatte. Der Pilot schaute zu mir und sagte: „Na los, nimm das Steuer, du fliegst jetzt mal.“ Wenige Augenblicke in meinem Leben haben mir so den Atem geraubt wie die folgenden Minuten. Ich war wieder der kleine Junge, der endlich flog, obwohl er sein Leben lang dachte, er würde das nie können.

 

Die gesammelten Texte findet ihr auf keinwiderspruch.de– zusammen mit den Porträt-Fotos, die Johannes Mairhofer gemacht hat.

Aktuell läuft ein Crowdfunding, denn aus den Porträts sollen ein gedrucktes Magazin und ein Hörbuch entstehen. Noch bis Sonntag (28. Juni 2015) könnt ihr das Projekt unterstützen: startnext.com/keinwiderspruch

 

Links:

Ihr wollt die ungekürzten Texte auf #keinwiderspruch lesen? Hier gibt's mehr von Raul Krauthausen

Hier geht's zum kompletten Text von Lisa Schmidt

Den vollständigen Text von Michael Herold findet ihr hier

(Redaktion )

Was hab ich?

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Eine junge Frau und zwei Männer haben sich zum Gruppenbild aufgestellt.

Wer den Befund seines Arztes vor lauter Fachbegriffen nicht versteht, für den gibt es kompetenten Rat. Auf der Plattform „Was hab’ ich?“ sind mehrere hundert Medizinstudierende und Ärzte aktiv, um das Mediziner-Latein in verständliche Sprache zu übersetzen – natürlich ehrenamtlich.

Für die Übersetzung des 25. Befunds hat Katrin Schweizer einen Orden bekommen. Die Auszeichnung der frisch examinierten Medizinerin ist zwar virtuell, aber was sie dafür geleistet hat, hilft Patienten und ihren Angehörigen ganz real. Die 26-Jährige, die gerade ihr Praktisches Jahr in Hanau angetreten hat, formuliert ärztliche Befunde um und versieht sie mit Erläuterungen, damit der Patient auch ohne jedes medizinische Fachwissen versteht, was gemeint ist.

Auf Augenhöhe mit dem Arzt

Eine intelligente Online-Plattform bringt Medizin-Studierende und Patienten zusammen, ohne dass sie sich direkt begegnen würden. Dort kann jeder ärztliche Befunde digital hochladen, die er alleine nicht verstehen würde. Das „Was hab’ ich?“-Team stellt sie anonymisiert in den geschlossenen Bereich der Webseite, zu dem nur die registrierten (angehenden) Mediziner Zugang haben. Katrin Schweizer: „Ich schaue meist am Wochenende, welche Befunde noch nicht in Bearbeitung sind, lese hinein und suche mir einen aus, der mich interessiert.“ Mit einem zweiseitigen Arztbrief ist sie meist mehrere Abende beschäftigt, schlägt immer wieder in Fachbüchern nach und recherchiert online. Katrin Schweizer stellt klar: „Uns geht es nicht darum, den Arzt zu ersetzen. Wir wollen lediglich, dass sich der Patient auf Augenhöhe mit ihm unterhalten kann.“

Perfektes Training für das Arzt-Patienten-Gespräch

Die Engagierten – egal ob Studierende oder fertig ausgebildete Mediziner – arbeiten ehrenamtlich. Kleine Auszeichnungen wie die für den 25. Text sorgen auf der Plattform spielerisch für zusätzliche Motivation. So gibt es auch digitale Anstecker für die erste Übersetzung, für eine besonders lange oder auch eine, die erst spät in der Nacht fertig wurde.

Obwohl das Projekt weitgehend online-basiert ist, wird eine enge Betreuung der mehreren hundert Freiwilligen sichergestellt. Es beginnt mit einem Schulungs-Video und dem persönlichen Telefonat mit einem Mitarbeiter. Danach können an ersten leichteren Texten Erfahrungen gesammelt werden. Mindestens die ersten fünf Übersetzungen checkt ein Supervisor gegen und gibt Empfehlungen. Auch später ist ein zweiter Blick durch erfahrene Übersetzer jederzeit möglich.

Für Katrin Schweizer ist klar, dass die Arbeit für „Was hab’ ich?“ auch beruflich eine ganze Menge bringt: „Ich lerne viel über die Art und Weise, wie man mit Patienten und Angehörigen sprechen sollte. Was beispielsweise eine verkalkte Herzklappe für Folgen hat, hätte ich vorher nicht für Laien verständlich erklären können.“

Inzwischen sind Studierende an sämtlichen deutschen medizinischen Fakultäten bei „Was hab’ ich?“ aktiv. Weitere freiwillig Engagierte werden gesucht und können sich über die Homepage der Organisation melden. Im besten Fall geht es ihnen dann wie Katrin Schweizer, die ganz schnell merkte: „Mich hat es gepackt!“

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.

Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

 

Linktipps:

Ärztliche Hilfe auf Rädern. Ursel Holdhoff-Krauel versorgt wohnungslose Menschen in Hamburg medizinisch.

 

Jede Menge Engagement an der Uni. Engagement-Ideen für die Studienzeit.

 

(Henrik Flor)


Die Gipfelstürmer von Kreuzberg

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Ein Junge klettert an einer Wand hoch.

Auch Kinder, die in der Stadt groß werden, sollen Abenteuer erleben. Das haben sich die „Stadtcamper“ in Berlin-Kreuzberg auf die Fahnen geschrieben. Marietta, Kostja oder Ali haben es schon ausprobiert und wollen nicht mehr ohne.

Es ist eine bunte Truppe, die sich jeden Freitagnachmittag in der Axel-Springer-Straße trifft. Da sind Marietta und Katharina, die beiden Schwestern von nebenan, Ali mit seiner Einzelfallhelferin, Sabri und Kostja, die sich lautstark mit Tierlauten begrüßen und sich dabei schlapp lachen oder der zurückhaltende Sebastian, der seine Umwelt hoch konzentriert beobachtet.

Kleine und große Fluchten aus dem Alltag

Wenn sich die jungen Camper, die zwischen 9 und 15 Jahren alt sind, einmal in der Woche treffen, spielen sie Fußball, klettern an einer speziellen Wand im Nachbarhof, besuchen Indoor-Klettergärten oder machen kleine Kanutouren. Die Organisation übernimmt der Verein Integrationsprojekt, der schon diverse inklusive Angebote für die Nachbarschaft geschaffen hat.

Highlight sind die Ferienfreizeiten zum Beispiel in der Sächsischen Schweiz: eine Woche lang Kletterkurs in den Sandsteinfelsen, zelten, gemeinsam kochen, Lagerfeuer und Stockbrot. Marietta (9) und ihre drei Jahre ältere Schwester waren schon öfter dabei und lieben die Zeit jenseits von Großstadt, Verkehrschaos und Schulstress.

Alle können mitbestimmen

Diese kleinen Fluchten aus dem Alltag machen nicht zuletzt Freiwillige wie Michael möglich. Der 27-Jährige ist selbst jahrelang Teilnehmer auf den Freizeiten gewesen. Mit 16 machte er dann seinen Jugendgruppen-Leiterschein und wurde zum Teamer. Er ist der Kletterexperte im Team, kümmert sich um die Ausrüstung und sichert Sabri, Yaren, Kostja oder Celina mit dem Seil, wenn sie an der Kletterwand in zehn Meter Höhe hängen. Seine Motivation bringt er ganz unprätentiös auf den Punkt: „Ich will Kindern die Möglichkeit geben, Sachen zu machen, die sie sonst nicht machen könnten.“ Auch viele ehemalige FSJlerinnen engagieren sich weiterhin ehrenamtlich im Verein und ermöglichen so Projekte, die sonst kaum durchführbar wären.

Warum so viele Freiwillige dem Verein treu bleiben? Einmal natürlich, weil sie die gemeinsame Zeit mit den Kindern und Jugendlichen genießen. Darüber hinaus macht das Integrationsprojekt e.V. eine entscheidende Sache richtig: Der Verein, den Ede Glittenberg 1987 in Kreuzberg gegründet hat und bis heute leitet, versteht sich als ausdrücklich basisdemokratisch. Mitreden können hier nicht nur die hauptamtlichen Mitarbeiter, sondern auch die freiwillig Engagierten. Sie sind in den Gremien vertreten, die über die Verteilung der finanziellen Mittel entscheiden und können so direkt mitbestimmen, welches Projekt welche Ausstattung bekommt. Das funktioniert hervorragend und kann Vorbild für andere Freiwilligen-Organisationen sein.

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

 

Linktipps:

Die Magie des Bolzplatzes.Ein Blogbeitrag über Ehrenamtliche, die allen die Möglichkeit geben wollen zu kicken.

 

 

Kinder an die Macht. Ein Blogbeitrag über die Kinderspielstadt Kleinhayn, die jede Sommerferien stattfindet.

 

(Henrik Flor)

Das große Schweigen: One Night Stands im Rollstuhl

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Eine Betonwand mit einem Graffiti, auf dem zwei Rollstühle abgebildet sind, einer davon ist umgekippt, davor ein eng umschlungenes Paar auf dem Boden liegend

Google weiß nicht nur alles, noch besser ist eigentlich, dass Google immer jemanden auf der Welt kennt, der genau das gleiche Problem hat wie man selbst. Aber umso einsamer fühlte ich mich, als mir Google eines Abends niemanden zeigen konnte, der die gleichen Fragen hat wie ich.

Wenn man das Wort One Night Stand in Google eingibt, erhält man Millionen von Treffern und gleich auf der ersten Seite mindestens 50 Regeln, die man dabei unbedingt beachten sollte. Man könnte jetzt darüber streiten, ob man die wirklich alle braucht, aber es scheint also zumindest ein Thema zu sein, zu dem es ziemlich viel zu sagen gibt.

Fügt man zu seiner Suchanfrage aber das Wort „Rollstuhlfahrer“ hinzu, gibt es plötzlich nur noch knapp 200.000 Treffer. Na gut, das lässt sich noch damit erklären, dass man seine Suche nun eindeutig auf die deutsche Sprache und eine bestimmte Zielgruppe eingrenzt hat. So richtig ernüchternd wird es aber, wenn man erkennt, dass sich nur ganze drei Beiträge überhaupt irgendwie mit dem Thema auseinandersetzen, während alle anderen auf andere Themen rund um Behinderungen ausweichen.

Keine Tipps, keine Erfahrungen 

Der aktuellste Beitrag ist eine Forumsdiskussion, die mehr als drei Jahre alt ist und sich um die Frage dreht, ob es für nicht behinderte Menschen moralisch in Ordnung ist, mit Menschen mit Behinderung Sex zu haben. Das ist alles, was man findet.

Keine Tipps, keine Regeln, keine Erfahrungen von anderen Menschen im Rollstuhl.

Heißt das also gleichzeitig, dass Menschen im Rollstuhl keine One Night Stands haben? Für die meisten Menschen ohne Behinderung wahrscheinlich eine durchaus realistische Vorstellung. Aber die Wahrheit ist, auch mit Rollstuhl ergeben sich immer wieder Gelegenheiten, und es würden sich sicher noch mehr Gelegenheiten ergeben, wenn wir uns endlich darüber austauschen würden.

Diese Antworten gibt es in keiner Zeitschrift

Das große Schweigen verunsichert, egal wie aufgeschlossen man selbst eigentlich ist. Früher oder später kommen die Zweifel: Bin ich für den anderen vielleicht nur ein Fetisch? Ist das nicht doch irgendwie alles zu gefährlich? Wie organisiere ich das mit der Assistenz drum herum? Die Antworten auf diese Fragen gibt es in keiner Zeitschrift oder keinem anderen Ratgeber. Das mag vielleicht nicht weiter verwunderlich sein, aber dass nicht mal Google Antworten darauf hat, ist schon ein bisschen schockierend. Wir sind schließlich schon längst die Generation, die sich für den Gipfel der Aufgeklärtheit und der Tabulosigkeit hält.

Mag sein, dass ich viel verlange, schließlich müssen sich viele Menschen noch überhaupt an den Gedanken gewöhnen, dass Menschen mit Behinderung durchaus Sex haben. Dass dies aber nicht nur innerhalb einer Beziehung möglich ist, wird in den meisten Überlegungen konsequent ausgeblendet. Umso wichtiger ist es, dass wir selbst anfangen, darüber zu reden, um Erfahrungen und Antworten zu sammeln. Schließlich ist es am Ende doch bei allen Menschen wieder gleich: Man bereut irgendwann am meisten die Dinge, die man sich nicht getraut hat.

 

Linktipps:

Mehr zum Thema Sexualität und Behinderung beim Familienratgeber

Behinderung und Sexualität: Noch immer ein Tabu. Heiko Kunert über Behinderungen von Sexualität

Sex and the wheelchair. Petra Strack über die Sexualität von Frauen mit Behinderung

Knutschen wie im Kino. Raúl Krauthausen über Berührungsängste beim Thema Beziehung, Partnerschaft, Sex und Behinderungen

(Tanja Kollodzieyski)

Urlaub, garantiert ohne Langeweile

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Jungen und Mädchen mit angemalten Gesichtern sitzen auf einem Klettergerüst.

Für Alia Bouzari gehört sie seit fünf Jahren zu den Sommerferien dazu: die „Stadtranderholung“ in Rheine. Zwei Urlaubswochen verbringen hier Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam. Die 21-jährige Studentin engagiert sich freiwillig für das Projekt und tankt dabei jede Menge Selbstbewusstsein.

Morgens um halb zehn geht es los. Dann versammeln sich die 60 freiwilligen Helfer der „Stadtranderholung“ in der Euregio Gesamtschule in Rheine. Wenig später fahren schon die Autos vor, die die 100 Teilnehmer bringen. Es sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene zwischen 6 und 66 Jahren die mit ganz unterschiedlichen Behinderungen leben. Zwei Wochen lang erleben sie zusammen mit dem Team ein buntes, aber entspanntes Programm, das ganz anders aussieht als der Alltag in Schule, Werkstatt oder Einrichtung. Für die Eltern ist es eine wichtige Entlastung und oft die einzige Möglichkeit, sechs Wochen Sommerferien mit dem Job zu vereinbaren. Jede „Stadtranderholung“, die der „Club Behinderter und ihrer Freunde im Kreis Steinfurt und Umgebung e.V.“ (CeBeeF)  organisiert, steht unter einem Motto. In diesem Sommer wird es das „CeBeeF-Musikfestival – Musik liegt in der Luft“ sein.

Aktionen in der Stadt, für die Stadt

Alia Bouzari, die seit 2010 jedes Jahr dabei ist, erklärt das Prinzip: „Teilnehmer und Freiwillige sind in zehn Gruppen eingeteilt. Wir versuchen so, die verschiedenen Altersgruppen zu bündeln. Viele Aktionen, wie ein Besuch im Zoo oder Eis essen, werden mit der Gruppe gemacht.“ Auch auf dem Schulgelände gibt es zahllose Möglichkeiten zu spielen, zu toben, einander kennenzulernen und Freundschaften jenseits des alltäglichen Umfelds zu schließen. Jede Gruppe hat zudem die Aufgabe, einen Teil des Ferien-Mottos zu gestalten. Die einen basteln Instrumente und musizieren damit, andere tanzen nach Musik und führen etwas auf. Am letzten Tag sind alle Rheinenser eingeladen, einen Rundgang über das Festivalgelände (Schulhof) zu machen.   

Wo Eltern Initiative zeigen

Alia hatte zum ersten Mal in der Schule von dem Projekt erfahren. Damals kam eine der Organisatorinnen vom CeBeeF in ihre Schule und hat für das Projekt geworben. Sie wusste damals schon, dass sie später im sozialen Bereich arbeiten möchte, und war froh über die Gelegenheit, vorab schon mal Praxisluft zu schnuppern. Inzwischen studiert sie Gerontologie in Vechta.

Der CeBeeF ist seit 1977 als klassische Elterninitiative aktiv. Damals gab es noch sehr viel weniger Einrichtungen oder Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung als heute. Also haben es die Eltern selbst in die Hand genommen. Das Ergebnis kann man jeden Sommer in der Euregio Gesamtschule in Rheine besichtigen.

Der Kick fürs Selbstbewusstsein

Für Alia Bouzari war die erste Stadtranderholung ein Sprung ins kalte Wasser. Sie hatte vorher kaum Kontakt zu Menschen mit Behinderungen. Aber schon im Vorbereitungskurs lernte sie, was beim Vorlagenwechsel zu beachten ist oder probierte aus, wie es ist, wenn man selbst in einem Rollstuhl sitzt. Sie erinnert sich: „Pflegerische Dinge haben mir auch am Anfang nichts ausgemacht. Im Gegenteil, ich war stolz, dass ich es auf Anhieb konnte. Inzwischen weiß ich auch, was zu tun ist, wenn zum Beispiel jemand einen Krampfanfall hat.“ Das ist nicht nur gut für ihre spätere Arbeit, sondern auch für das Selbstbewusstsein.

 

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.

Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

(Henrik Flor)

Kennenlernen leicht gemacht

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Eine junge Mutter tanzt lachend mit ihrem Baby auf dem Arm

Wie begegnen sich Menschen in anderen Ländern? Mirien Carvalho ist viel gereist und unterschiedlichsten Menschen begegnet. Hier schreibt sie über neue Begegnungen in zwei Ländern.

„Das ist Denise. Sie spricht auch Spanisch wie du, und Melissa hier wohnt ganz in deiner Nähe.“ In Brasilien werden neue Leute nicht nur besonders herzlich aufgenommen, es werden auch gleich Brücken gebaut zu den anderen Anwesenden. Dafür werden zum Beispiel Gemeinsamkeiten erwähnt.

Ich bin sofort mit Denise und den anderen im Gespräch. Spontan entsteht eine fröhliche Runde aus neuen Leuten – fremd ist sich hier niemand. Auch ich fühle mich in der Runde gleich zuhause, denn immer wieder spricht mich jemand mit meinem Namen an, oder es berührt mich ganz nebenbei eine Hand am Arm, an der Schulter, sogar im Haar. Ich bin hier selbstverständlich Teil der Gesprächsrunde – anders als in Deutschland. Da sind viele Menschen auf den Blickkontakt fixiert, und wenn der nicht da ist, wenden sie sich häufig schnell ab.

Türöffner in zwei Kulturen

In Südbrasilien laden die Menschen mich ständig zum traditionellen Mate ein. Das Getränk wird wie eine Wasserpfeife herumgereicht. Wer es annimmt, gehört dazu. Sei es im Rathaus oder vor einem Laden, man steht oder sitzt in einer Runde und bekommt Geschichten aus dem Alltag geschenkt. Das funktioniert auch in jedem Pub in der westirischen Kleinstadt Ennis. Trinkst du ein Guinness mit, bist du dabei. Wir reden über Gott und die Welt, die Zeit vergeht im Flug. Ich lerne alles über die engen Straßen, für deren Ausbau EU-Gelder fehlen, über den mir völlig neuen Sport Hurling und natürlich über Musikfestivals in der Gegend.

Tanzen verbindet

Musik und Tanz sind überhaupt großartige Türöffner. In Porto Alegre lädt mich ein Bekannter zu einer Tanzveranstaltung ein. Ich tanze mit älteren Herren und jungen Müttern, die Babys auf dem Arm tragen. Es sind ungeheuer sinnliche Momente, die ich mit diesen Menschen erlebe. Die meisten von ihnen werde ich nie wiedertreffen – dennoch käme ich nie auf die Idee, sie Fremde zu nennen. Die Körper berühren sich beim Tanzen, denn Berührung gehört in Brasilien zum Leben wie das Atmen. Auch ich werde berührt, nicht, weil ich nicht sehe, sondern weil es dazu gehört. Es ist ein Zeichen dafür, dass die anderen mich wahrnehmen, ich mit ihnen in Verbindung stehe; sie spendet ungeheuer viel Energie.

 

Linktipps:

Rio de Janeiro, endlich war ich auch da. Blogbeitrag von Mirien Carvalho über Gerüche, Geschmäcker, Begegnungen – und über Barrierefreiheit für Reisende mit Behinderung

Fußball-Land der Widersprüche. Blogbeitrag von Mirien Carvalho über die Situation von Menschen mit Behinderung in Brasilien

Es gibt Fans, die gibt es gar nicht. Blogbeitrag von Mirien Carvalho über Barrierefreiheit in Brasilien – und auch in Deutschland

(Mirien Carvalho Rodrigues)

<span lang="fr">Caf&eacute;</span> Deutsch

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Eine Frau sitzt mit einem Mann an einem Tisch und unterhält sich.

Batu wollte endlich besser Deutsch lernen, Monika etwas für andere tun. Seit November sind die beiden Frauen jetzt ein Sprachtandem und der lebende Beweis dafür, was eine Begegnung alles verändern kann.

Monika und Batu sind beide Anfang 40, sie leben in Landshut, treffen sich einmal in der Woche und unterhalten sich über die Arbeit oder die Familie, sie gehen einkaufen und machen kleine Rollenspiele. Die eine ist waschechte Bayerin, die andere floh vor dem Bürgerkrieg in Afghanistan. Dass sich die beiden, die früher 5.000 km trennte,  gefunden haben, wäre ohne das „Café Deutsch – Sprachtreff und mehr!“ kaum denkbar gewesen. Das Projekt der Freiwilligen Agentur Landshut bringt Alteingesessene mit Flüchtlingen zusammen. Die Neu-Landshuter verbessern dabei ihre Sprachkenntnisse und docken leichter an ihrem neuen Lebensmittelpunkt an. Die engagierten Freiwilligen bekommen das gute Gefühl, jemandem das Ankommen in Deutschland zu erleichtern. 30 Tandems sind derzeit aktiv. Mit dabei sind Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Senegal, Guinea, Äthiopien. 

Ansteckende Begeisterung

Batu arbeitet schon seit sieben Jahren in einer Wäscherei. Ihre Kollegen kommen aus aller Welt, viel Deutsch konnte sie hier nicht lernen. Die drei Kinder sind längst angekommen in Landshut, haben ihren Schulabschluss gemacht und stehen im Beruf. Doch da die Kinder nicht unbedingt die geduldigsten Deutsch-Lehrer sind, ist Batu selbst aktiv geworden: „Ich bin sehr froh, dass Monika hier ist. Sie kann mich korrigieren, und ich habe das Gefühl, dass mein Deutsch wirklich besser wird. Andere, die nichts unternehmen, brauchen auch nach 20 Jahren in Deutschland einen Dolmetscher. Das möchte ich nicht.“

Monika ist bei einem großen Münchner Unternehmen in der Buchhaltung tätig, die Söhne sind 13 und 16, und diverse Hobbys hat sie auch. Dass sie sich dennoch die Zeit für dieses Ehrenamt nimmt, hat mit den vier Jahren zu tun, die sie in Griechenland verbracht hat. Sie wurde damals mit offenen Armen empfangen und lernte durch den engen Kontakt mit den Griechen schnell die Sprache. Ein Stück Griechenland wollte Monika auch nach Landshut holen. Sie sagt: „Es ist ein wunderbares Gefühl, etwas zu tun, was mir Spaß macht und was Batu Spaß macht. Das tut richtig gut. Ich bin jedes Mal wieder begeistert.“ Dass diese Begeisterung ansteckt, wissen inzwischen auch ihre Familie und Kollegen. Eine von ihnen macht auch mit beim „Café Deutsch“.

Die richtige Begleitung

Die gesamte Koordination des Projekts liegt ebenfalls in ehrenamtlicher Hand. Edwin Schreiber ist derjenige, der dafür sorgt, dass die Menschen, die ein Tandem bilden, auch wirklich zusammenpassen und einen Ort für die Treffen haben. Er erklärt: „Ein Café der Arbeiterwohlfahrt steht zur Verfügung – das ist unser eigentliches ‚Café Deutsch‘. Es gibt aber viele Tandems, die sich nach den ersten Wochen lieber zum Spaziergehen treffen oder gemeinsam einkaufen, etwas kochen. Dann findet das ‚Café Deutsch‘ eben woanders statt.“

Weitere Freiwillige sind jederzeit willkommen, die Nachfrage aufseiten der Flüchtlinge ist enorm. Wer noch zögert, den überzeugt vielleicht Monika, wenn sie sagt: „Jeder kann im Kleinen etwas tun, das hilft dann zusammen eine ganze Menge.“

Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch nach seinen individuellen Möglichkeiten selbstbestimmt leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Dieses selbstverständliche Miteinander erreichen wir nur, wenn sich möglichst viele Menschen für eine inklusive Gesellschaft einsetzen und sie mitgestalten – zum Beispiel durch freiwilliges Engagement. Die Aktion Mensch bietet mit ihrer Freiwilligen-Datenbank einen Überblick über die zahlreichen Möglichkeiten: Menschen mit und ohne Behinderung können aus mehr als 13.000 Angeboten  das passende Engagement auswählen.



Weitere Ideen für inklusives Engagement finden Sie in der Freiwilligen-Datenbank.

(Henrik Flor)

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