Plötzlich, das war irgendwann im Januar 2007, hast du meine Liebe gewonnen, und seitdem sind wir: die unzertrennlichen #Umrikschwestern. Nein, das war nicht direkt nach deiner Geburt. Ich fand dich erstmal „ganz okay“ – du hast mich nicht gestört, aber ich habe dich nicht vermisst.
Eines Tages, als ich müde von der Arbeit auf der Couch lag und du neben mir warst, berührten sich unsere Nasen, du hast gelächelt und deine kleinen Hände zogen an meinen Haaren ... Und ja, wie soll ich sagen: Seitdem bin ich in dich vernarrt.
Du bist schön. Deine langen blonden Haare, großen blauen Augen und der Schmollmund lassen dich wie Cinderella oder Dornröschen in der Realität aussehen. So stellt man sich immer Prinzessinnen vor. Du kannst nicht normal laufen oder sprechen – du schwebst, du singst, du tanzt. Dein kleines Herz umarmt das Universum, und du lachst viel. Dein Lachen ist schön und es kann so ansteckend sein. Dein Lächeln lädt dazu ein, dem Glück eine Chance zu geben.
Du hast keine Behinderung. Für dich habe ich keine Behinderung.
Deine Klassenkameraden stellen viele Fragen:
„Kann sie sehen? Kann sie sprechen? Kann sie denken?“
Du schaust immer etwas verwirrt und verziehst deine Mundwinkel, als würdest du dich vor etwas ekeln. Du ziehst dann deine kleinen Augenbrauen zusammen und man merkt, dass du nachdenkst, nach einer adäquaten Antwort suchst und sie einfach nicht findest. Du kannst die Fragen nicht nachvollziehen. Dann rufst du mich an und erzählst es mir lachend: „Stell dir vor, sie glauben, dass du nicht DENKEN kannst! Dann habe ich dich auf YouTube gezeigt, jetzt wollen sie alle ein Autogramm von dir haben. Hast du eigentlich Autogrammkarten?!“
Nein, ich habe keine Autogrammkarten, aber reagiere auf Kinderstimmen, die „Hallo, Alinas Schwester!“ rufen.
Viele denken, du wirst von mir vieles lernen, und ich werde dir zeigen, wie man mutig, cool und stark durchs Leben geht. Vielleicht werde ich dir einiges beibringen, ja, aber von dir lerne ich gerade auch sehr viel. Man mag es nicht glauben, aber auch ich stecke oft in Situationen, in denen mir etwas unangenehm ist und ich plötzlich von den Unsicherheiten überfallen werde. Neulich zum Beispiel: Wir waren auf einer russischen Hochzeit und besonders da tanzt man sehr viel – außer man ist alt, spießig, oder eben „behindert“. In der russischen Kultur ist das Thema Behinderung längst nicht vorurteilsfrei und akzeptiert. Auf solchen Veranstaltungen fühle ich mich immer fehl am Platz. Es war gegen Mitternacht, alle tanzten, du ganz groß und wild mitten auf der Tanzfläche. Ich schaute dir zu und lächelte. Mir würde es niemals in den Sinn kommen, auf die Tanzfläche zu gehen, ich stehe nicht so gern im Mittelpunkt zur lauten Musik, zwischen den Hintern bewegenden Menschen und – ja, ich mag das einfach nicht! Du kamst an meinen Tisch und sagtest sehr bestimmt: „Ich möchte, dass du mit mir tanzt.“ Ich schnappte nach Luft, kramte nach überzeugenden Argumenten, suchte nach dem Ausgangsschild, nahm einen großen Schluck Rotwein – und stand plötzlich auf der Tanzfläche. Zwischen diesen ganzen perfekten, sich schön bewegenden, mich voller Mitleid und Bewunderung zugleich anlächelnden Menschen, tanzten wir beide und vergaßen für eine kurze Zeit alles um uns herum.
Wie machst du das?! Wie schaffst du es, mit deinem Charme und deiner Willensstärke, mich – die mindestens genauso stur und stark ist wie du – alles vergessen zu lassen und dir blind zu folgen?
Als du in den letzten Tagen bei mir übernachtet hast, hast du nachts deinen kleinen Arm um mich gelegt und vor dich hin genuschelt: „Du bist die beste Schwester auf der ganzen Welt, ich möchte so werden wie du.“
Ich lag den Rest der Nacht hellwach mit einem klopfenden Herz neben dir.
So viel Liebe erträgt doch kein Mensch!
Linktipps:
Infos und Links rund ums Thema „Geschwisterkinder“ hat der Familienratgeber
„Anders sind sie alle“: Der Blog von Anastasia Umrik
(Anastasia Umrik)