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Tanzende Herzen

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Zwei Fotos: Mareice Kaiser sitzt vor ihrem Laptop, Anastasia Umrik in ihrem Rollstuhl

Mareice Kaiser und Anastasia Umrik lernen sich online kennen und schätzen. Als sie sich dann offline treffen, fühlt sich das direkt richtig an: wie eine langjährige Freundschaft eben. Im Blog beschreiben beide ihre erste Begegnung.Begegnung mit... Anastasia UmrikVon Mareice Kaiser

Kennengelernt habe ich Anastasia im Internet. Ich hatte gerade meinen Blog Kaiserinnenreich gestartet, auf dem ich aus meinem Leben als Mutter von zwei Töchtern – mit und ohne Behinderung – erzähle. Anastasia war darauf aufmerksam geworden. Als Kopf hinter dem Projekt anderStark fragte sie mich, ob ich Lust hätte, als Autorin für ihren Gemeinschaftsblog zu schreiben. Anastasia hat mir gleich gefallen. Es war Liebe auf den ersten Klick. Ihr Einsatz dafür, zu zeigen, dass behinderte Menschen ganz selbstverständlich auch attraktiv und schön sind, imponierte mir. Ihr Charme kam direkt bei mir an. Schon per Mail entwickelte sich zwischen uns schnell eine digitale Freundschaft. Wenn Anastasia Texte schrieb, war ich jedes Mal begeistert – ihr ging es andersherum zum Glück ähnlich. Ich schrieb also die ersten Beiträge für Anastasias Blog anderStark, den allerersten über die Schönheit meiner behinderten Tochter.

Wie Freundinnen das machen

Ende November trafen wir uns dann endlich das erste Mal im „echten Leben“: Die Sozialhelden hatten zur Jubiläumsparty eingeladen, es lag Schnee auf Berlins Straßen und Anastasia kam aus Hamburg, um mit uns zu feiern. Als ich auf dem Weg zur Location in Berlin Mitte im Taxi saß, tauschten Anastasia und ich bereits aufgeregte SMS aus: „Bist Du schon da?“, fragte sie, und ich antwortete: „In fünf Minuten.“ Vorher hatten wir bereits besprochen, was wir anziehen. Damit auch keine von uns over- oder underdressed erscheint. Wie Freundinnen das halt machen. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass wir die gleichen Interessen haben: Stil, Schuhe, Ironie und Inklusion.

Als ich aus dem Taxi ausstieg, sah ich Anastasia schon von weitem. Ohne nachzudenken, lief ich zu ihr über die Straße und umarmte sie herzlich. Es war gleich, als würden wir uns nach langer Zeit wiedersehen – dabei war es unser erstes Treffen. Wir hatten sofort Gesprächsthemen und gingen gemeinsam zum Veranstaltungsort. Meine einzige Unsicherheit bezog sich auf ihre Assistentin, denn ich wollte sie nicht komplett ignorieren, ihr aber auch nicht zu viel Raum geben. Vorab hatte ich mir darüber gar keine Gedanken gemacht, obwohl ich wusste, dass Anastasia wegen einer Muskelerkrankung 24 Stunden am Tag auf Assistenz angewiesen ist. Meine Unsicherheit der Assistentin gegenüber verflog aber schnell, weil sie sich selbst nach der Begrüßung im Hintergrund hielt und intuitiv nur auftauchte, wenn Anastasia ihre Unterstützung brauchte.

Kichernd wie kleine Kinder

„Wein?“, fragte ich Anastasia, und sie nickte lächelnd. Wenig später hatte ich ein Glas mit Rotwein in der Hand und das für Anastasia stand auf ihrem Rollstuhltisch. Doch damit wir auf unser erstes Treffen anstoßen konnten, fehlte noch etwas. Eine Sache hatte ich übersehen: Damit Anastasia trinken konnte, benötigte sie einen längeren Strohhalm. Nachdem die Kellnerin ihn brachte, begann auch schon die Veranstaltung. Anastasia und ich stießen mit unseren Gläsern an, tranken Wein und verhielten uns wie die beiden Opas der Muppet Show: Im Hintergrund beobachtend und blödelnd. Wir schrieben uns gegenseitig Nachrichten per Whatsapp, um das Programm nicht zu stören, und kicherten wie kleine Kinder über die Witze der anderen.

Ein paar Tage später trafen wir uns wieder auf dem Zukunftskongress der Aktion Mensch. Mittlerweile kannten wir unsere „Special Needs“: Beim Kaffeetrinken bin ich auf laktosefreie Milch angewiesen, Anastasia beim Wein trinken auf einen Strohhalm. Der Umgang mit ihrer Assistentin war selbstverständlich geworden. Anastasia und ich suchten uns die Programmpunkte danach aus, gemeinsam im Publikum sitzen zu können. Wir lachten viel und freuten uns über unsere Begegnung. Unsere digitale Freundschaft war in der Realität angekommen.

Begegnung mit... Mareice KaiserVon Anastasia Umrik

Ich kenne viele Menschen. So viele, dass ich mich eher an die Situationen mit ihnen, als an ihre Namen erinnern kann. Manchmal verwechsle ich Namen und Geschichten, Telefonnummern mit Postleitzahlen, aber im Grunde weiß ich immer: Du bist cool oder du bist ... naja, sagen wir mal, du hast eine andere Art von Coolness.

Bei Mareice war alles anders. Ich wusste ihren Namen, kannte ihre Geschichte und ihre Telefonnummer fast auswendig.

„Mehr davon!“

Ihr kennt das: Man sieht jemanden (manchmal auch nur online), liest etwas von seinen oder ihren Gedanken und denkt: „Wow! Ich brauche mehr davon!“ So war das auch bei Mareice und mir. Ich habe sie auf Facebook entdeckt und habe erst nach und nach verstanden, wer sie ist, wie sie tickt, worüber sie lacht und wann sie vor Wut mit den Füßen stampft. Eine junge, schöne, sehr kluge Mama, die zwei kleine Mädchen hat – eins davon mit einer Behinderung. Wie meine Mama. Mareice kämpft unermüdlich für die Rechte ihrer Kleinen, sie will, dass bald alles besser wird – für alle. Wie meine Mama – damals. Nur ist Mareice jünger, und ich könnte auch die Mama ihrer Mädchen sein; es berührte mich, ich hatte oft beim Lesen ihrer Texte in ihrem Blog „Kaiserinnenreich“ Tränen in den Augen.

Erstes Date

Im Winter 2014 auf dem Weg zur Jubiläumsfeier der Sozialhelden in Berlin, hat sich das ein bisschen wie ein erstes Date angefühlt: Werden wir uns offline auch mögen? Wie spricht sie? Was wird sie tragen? Wir lieben beide Mode, das wussten wir bereits.

„Bist du schon da?“, schrieb ich via Whatsapp.
„In 10 Minuten. Freu' mich!“

„Anastasiaaaaaaaaaa!!!!“

Ich drehte mich um und strahlte. Mareice umarmte mich  – ich sie im Rahmen meiner Möglichkeiten auch –, und es war, als würden wir uns ewig kennen. Wir kannten uns ja auch schon ewig, nur eben nicht real. Es fühlte sich richtig an. Wir waren zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.

Intensive Begegnung

Eine intensive Begegnung ist für mich unabhängig vom Zeit und Raum, Alter, Hautfarbe oder gar einer Behinderung. Schaut euch doch mal in die Augen, sagt zwei nette Sätze zu einander, und wenn es funkt, dann lasst eure Herzen zusammen tanzen.

„Komm, wir gehen tanzen, Mareice!“

Linktipps:

Auf einen Abend in der Sushi-Bar. Blogbeitrag von Wiebke Schönherr über ein Treffen von drei besten Freundinnen – von denen eine Rollstuhl fährt

Verstehen ist mehr als Hören. Blogbeitrag von Margit Glasow über ihre Begegnung mit Hannah Tinten, die sich für Menschen mit Hörbehinderung einsetzt

Darf man Jungs doof finden, auch wenn sie im Rollstuhl sitzen? Interview mit Jannis und Antonia, für deren Freundschaft das Handicap des einen so gut wie keine Rolle spielt

(Mareice Kaiser)


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