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Inklusion im Passivhaus

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Eine herbstliche Baumallee, gesäumt von modernen Häusern

Im trendigen Freiburger Öko-Stadtteil Rieselfeld bietet die Lebenshilfe inklusive Wohngemeinschaften für Menschen mit und ohne Behinderung an. In die WGs ziehen junge Erwachsene ein, die sich per Vertrag dazu verpflichten, ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern mit Behinderung regelmäßig einige Stunden im Monat zu assistieren und dafür einen Teil der Miete sparen. Josefine Zaltenbach, die aufgrund von Spina Bifida im Rollstuhl sitzt, hält das unterstützte Wohnen in ihrer inklusiven WG in einem Passivhaus im Rieselfeld für das Beste, was ihr passieren konnte.

Das Haus nicht barrierefrei, gleich vor der Tür ein unüberwindbar steiler Berg, ein öffentlicher Bus, in den sie mit ihrem Rollstuhl nicht hineinkam: Vor vier Jahren war die Welt von Josefine Zaltenbach sehr beschränkt. Nach zehn Jahren in einem Internat war die 24-Jährige wieder bei ihrer Mutter in einem Dorf im Hochschwarzwald eingezogen. Es bot ihr, als Frau, die aufgrund von Spina bifida - einer Fehlbildung der Wirbelsäule - im Rollstuhl sitzt, kaum Möglichkeiten. "Deswegen saß ich sehr viel zuhause herum", erzählt sie.

Anderthalb Jahre lang lebte sie so, bis im Mai 2011 die Wende kam. Zaltenbach zog in eine inklusive Wohngemeinschaft (WG) der Lebenshilfe nach Freiburg um. Ein architektonisches Vorzeigeobjekt aus Holz, damals noch eine halbe Baustelle, ist seitdem ihr Zuhause im Trend-Stadtteil Rieselfeld. Nicht nur das energiesparende Passivhaus in der öko-ambitionierten Siedlung, auch die Wohnform, in der die junge Frau hier lebt, ist modern: eine gemeinsame Dreier-WG von jungen Menschen mit und ohne Behinderung. Zurzeit teilt sich Josefine Zaltenbach die Wohnung mit einer Studentin und einem jungen Mann, die ihr beide über eine fest vereinbarte Stundenzahl hinweg assistieren. Vieles schafft sie alleine, eine Pflegestufe hat sie nicht. Aber es gibt im Alltag doch immer wieder Situationen, in denen sie eine helfende Hand gut brauchen kann. Allein schon, wenn sie etwas verschüttet hat oder an Gegenstände nicht heranreichen kann, erzählt sie. Hauptsächlich geht es bei den Assistenz-Stunden aber um gemeinsame Unternehmungen - vom Kochen bis hin zum Ausgehen.

Endlich kochen gelernt

"Hier ist einfach alles viel besser", sagt Josefine Zaltenbach, als sie in der großzügigen WG-Küche Bilanz zieht. Sie genießt die Privatsphäre, die sie jetzt hat, und vor allem die Freiheit, sich nach Belieben in Freiburg umzusehen. "Ich kann in die Stadt, wann ich will, bin viel selbständiger geworden." Sie fährt zur Küchenzeile mit unterrollbarer Spüle, Arbeitsfläche und Herd und drückt einen Knopf: Summend senkt die gesamte Platte sich auf die von ihr benötigte Höhe. Auch so ein Pluspunkt der neuen Umgebung. Nie konnte sie kochen lernen, weil sie mit dem Rolli nicht gut an die Kochplatten kam. In ihrer WG geht das endlich. Die Aktion Mensch hatte die entsprechende Küchentechnik in zwei Wohnungen im Haus mit 10.606 Euro gefördert.

Ihre beiden Mitbewohner sind grade ausgeflogen, beide sind stark in ihre Ausbildung eingebunden. Nur selten sind alle Drei mal gleichzeitig zu Hause. Josefine Zaltenbach bedauert, dass sie die anderen tagsüber so selten sieht: Die ausgebildete Bürokraft ist zurzeit arbeitssuchend und muss viel Zeit totschlagen, bis die anderen eintrudeln, von ihrem Tag erzählen und man sich manchmal zusammen etwas kocht oder noch ausgeht.

Bei WG-Zoff hilft die Beraterin

In der jetzigen Bewohnerkonstellation fühlt sie sich wohl: Die beiden seien ihre Freunde, sagt die junge Frau. Die vereinbarten Putzdienste für Bad und Küche halten alle ein, jeder kauft bei Gelegenheit nötige Dinge für die Allgemeinheit ein, die Kosten dafür teilen sie sich am Ende des Monats fair auf. "Das läuft mittlerweile alles wie geschmiert", findet Josefine Zaltenbach. In der ersten Konstellation der WG mit zwei Studentinnen klappte das Zusammenwohnen nicht, und man trennte sich nach einiger Zeit.

Bei ernsthaftem Zoff in der WG oder wenn Josefine Zaltenbach Beratung bei wichtiger Post von Behörden und Ämtern braucht, ist Juliane Kallmeyer gefragt. Kallmeyer arbeitet als pädagogische Fachkraft der Lebenshilfe Breisgau im unterstützten Wohnen und ist spezielle Beraterin der WG. Die Lebenshilfe hat seit 2007 viele inklusive WGs mit zwei, drei oder vier Bewohnern begründet. Der Träger vermietet die einzelnen Zimmer an Untermieter und bildet so unterstützende WGs rund um einen Menschen mit Behinderung. Mit den Mitbewohnern ohne Behinderung schließt er einen Assistenzvertrag ab, der festlegt, wie viele Stunden Eingliederungshilfe sie leisten werden. Diese Hilfe kann gemeinsames Einkaufen genauso beinhalten wie Freizeitaktivitäten. Durch die Vergütung der Assistenz wird die Mietbelastung gemindert, erklärt Juliane Kallmeyer. "Es ist manchmal problematisch für die Studenten, die Grenze zwischen normalem Mitbewohner und der Rolle als Assistent zu ziehen", sagt die Rehabilitationspädagogin. "Nicht jede Freizeitgestaltung kann man sich gleich als Eingliederungshilfe aufschreiben."

Kein Wohnmodell für immer

Für 12 Stunden im Monat hat sich Josefine Zaltenbachs Mitbewohnerin zur Assistenz verpflichtet, ihr Mitbewohner für etwas weniger. "Das läuft hier meistens nicht als Unterstützung, sondern als Unternehmung unter Freunden auf einer sehr selbstverständlichen Basis", erklärt die 24-Jährige. Die WG sei für sie zurzeit "das Beste überhaupt". Aber sie spüre auch, dass diese Wohnform nicht für ewig passen wird. "Spätestens, wenn das Studium fertig ist, treibt es die studentischen Mitbewohner raus, dann ist die WG nicht mehr das Richtige", sagt sie. "Irgendwann bin ich also vielleicht 30 und habe junge Studentinnen um mich. Da hat man sich wohl nicht mehr so viel zu sagen." Josefine Zaltenbach weiß noch nicht, was sie dann machen wird. Nur in einem ist sie sich sicher: Allein wohnen möchte sie nicht mehr.


Linktipps:
Das Handlungsfeld "Inklusion leben: Zuhause" der Aktion Mensch
Die Förderbroschüre "Gemeinsam wohnen": Das Förderprogramm Wohnen der Aktion Mensch
Aber bitte mit Fahrstuhl! Ein Blogbeitrag von Katja Hanke über gelebte Inklusion in einer Berliner Wohngemeinschaft
Auf dem Sprungbrett zur eigenen Wohnung. Ein Blogbeitrag von Carmen Molitor über eine teilstationäre WG für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischer Erkrankung
"Unterstützung wird keine Einbahnstraße sein". Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über das Hamburger Wohnprojekt BliSS für gemeinsames Wohnen von blinden, sehbehinderten und sehenden Menschen
Manchmal fehlt eben doch die Milch. Ein Blogbeitrag von Michael Wahl über die erste inklusive Wohngemeinschaft Ludwigshafens

(Autor: Carmen Molitor)


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