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Inklusionsfähigkeit auf dem Prüfstand

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Markt mit Besuchern zwischen Früchtestand und Straßencafé

Mein ganz persönliches Plädoyer

Drei Uhr morgens. Todmüde im Bett liegend postete ich auf Facebook: "Ich war heute beim "Ball Papillon" - einem Charity-Ball der Deutschen Muskelschwundhilfe zugunsten von Muskelkranken. Die einzigen Rollstuhlfahrer waren der Veranstalter selbst und meine Wenigkeit. Ich frage mich: WO seid ihr? WIE wollt ihr zur Inklusion beitragen? Ich bin enttäuscht. Ich bin empört."

Gleich hinterher twitterte ich unter @AnastasiaUmrik: "Auf einem #Charityball eine von zwei Rollstuhlfahrern zu sein, ist wie Fahrradfahren ohne Fahrrad."

Schon bevor ich am nächsten Morgen meinen Rechner startete, wusste ich, dass viele Kommentare und vielleicht sogar Mails hierzu eingehen würden. Und in der Tat (vielen Dank dafür!): Einige schrieben, die Anfahrt zu dem Event sei ihnen zu weit gewesen, andere meinten, 200 € Eintrittspreis sei eine Frechheit, und bei so viel Geld verginge ihnen die Lust auf jegliche Inklusion. Andere schrieben wiederum, dass ein Besuch auf dem Marktplatz effektiver zu der Inklusion beitragen würde. "Stimmt!" - dachte ich, und probierte es aus.

Es ist mir - als Morgenmuffel - nicht leicht gefallen, extra früher aufzustehen, aber ich wusste ja, wofür ich es machte: Feldstudie für meinen nächsten Blogbeitrag. Konnte es tatsächlich sein, dass die Betroffenen ausschließlich wegen des Preises nicht zu dem Ball gekommen sind und sich auf dem Marktplatz wirklich mehr Menschen mit einer Behinderung tummeln und unterhalten, handeln und einkaufen würden? Ich hoffte es!

Markt der (inklusiven) Möglichkeiten?

Ich blickte mich um: Viele Menschen, alle Altersgruppen, vermutlich alle Ethnien - nur kein einziger Rollstuhlfahrer. Mission gescheitert? Nein. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben: Vielleicht lag es ja an meiner Wohngegend, vielleicht am Wetter, vielleicht wohnen hier tatsächlich wenige Rollstuhlfahrer - und die, die hier wohnen, waren ausgerechnet heute Morgen nicht an diesem Ort? Bestimmt.
Ich wollte an diesem Morgen nicht umsonst aufgestanden sein und machte mich auf den Weg zu einem anderen Marktplatz, der zentraler, größer, noch besser besucht ist. Voller Hoffnung schaute ich mich erneut um: Viele lachende Gesichter (in Hamburg schien die Sonne, was leider sehr selten ist), schnackende und gutgelaunte Menschen flanierten, blieben stehen, suchten sich Obst und Gemüse aus. Kein einziger Rollstuhlfahrer in Sicht. Nun, vielleicht sind die vielen Rollstuhlfahrer ja schon weg?! Vielleicht bin ich ja zu spät?! Ich fragte einen Händler, der nahe am Eingang seinen Stand hatte, ob er heute Morgen (er erzählte, er sei schon ab 6 Uhr dort gewesen) andere Rollstuhlfahrer oder "zumindest" Menschen mit einer sichtbaren Behinderung gesehen hätte. Er schüttelte den Kopf. "Manchmal kommt hier die Renate aus der Nachbarschaft her. Aber das war's dann auch schon. Selten hier jemand mit 'nem Wagen oder sowas", erzählte er in einem sympathischen Hamburger Dialekt. Ich wollte dennoch nicht aufgeben, bestellte mir einen Kaffee, genoss die Sonne und prüfte die Menschen auf ihre Behinderungen.

An diesem Morgen bin ich mit der Erkenntnis nach Hause gefahren, dass entweder wenige Menschen mit einer Behinderung in Hamburg leben oder diese schlicht und einfach nicht rausgehen.

(Falls dieser Gedanke Ihnen gerade durch den Kopf geht: Ich gehe wirklich oft raus. Aber im Durchschnitt begegne ich nur in einem von 28 Malen einem anderen Menschen mit Behinderung. Klingt unglaublich, ist aber so.)

WIR sind gefragt!

Fakt ist: Ganz egal, ob der Eintritt 2 € oder 200 € kostet: WIR sollten rausgehen. Wir sollten uns zeigen und damit beginnen, zu unserer Behinderung zu stehen. Mit Selbstbewusstsein und dem Wissen darüber, dass noch nicht alles in unserer Gesellschaft optimal ist. Wir sind es, die auf die Missstände hinweisen sollten, sie aufzeigen und - wenn möglich - zu ihrer Verbesserung beitragen. Mit unseren Mitteln!

Lasst uns doch mal effektiv mit der Umsetzung der Inklusion beginnen - bei UNS, die sie fordern und die ein großes Interesse haben, dass sie funktioniert.

Mein ganz persönlicher Aufruf

Falls Sie ein behindertes Kind haben: Schicken Sie es niemals auf eine "Sonderschule", sondern ermöglichen Sie ihm ein möglichst selbstbestimmtes Leben - unter realen Bedingungen. Falls ihr Kind nicht behindert ist: Sprechen Sie mit Ihrem Kind offen über Behinderungen und erlauben Sie ihm, Fragen zu stellen und auch mal mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Seien Sie so aktiv wie möglich und gehen Sie vor die Tür: Lächeln Sie und atmen Sie die (auch schon mal dreckige) Stadtluft ein.

Meckern Sie nicht über Stufen und sonstige Barrieren, sondern über die Bundestagswahl oder die NSA.

Suchen Sie sich ein Hobby wie Kochen, Backen oder Holzschnitzen. Aber bitte: Konzentrieren Sie sich nicht permanent auf die negativen Seiten Ihrer Behinderung!

Lachen Sie, wenn jemand über Sie stolpert - das kann doch mal passieren ...

Sagen Sie jemandem, wie schön und interessant Sie ihn oder sie finden, und fragen Sie nach der Telefonnummer - sofern zuhause nicht schon jemand wartet. Wenn doch: Wann haben Sie Ihrem Partner das letzte Mal gesagt, wie attraktiv Sie ihn finden?

Meine ganz persönliche Liste kann beliebig fortgeführt werden und ist in einzelnen Punkten selbstverständlich variierbar. Aber fangen Sie doch einfach mal an - der Rest wird sich ganz sicher ergeben!


Linktipps:
Inkludiere dich selbst. Anastasia Umrik überlegt im Blog, dass es nicht immer an den "Nicht-Behinderten" liegt, wenn es mit der Inklusion hakt
Inklusion:Wer muss sich denn nun anpassen? Ein Blogbeitrag von Petra Strack über den Anteil von Menschen mit Behinderung an der Inklusion
Wettbewerb der Behinderungen? Ein Blogbeitrag von Marie Gronwald über ihre Erfahrungen mit Konkurrenz zwischen Menschen mit Behinderung
Wie ich lernte, meine Behinderung zu akzeptieren ... Ein Blogbeitrag von Raul Krauthausen über Strategien, sich selbst so zu akzeptieren, wie man ist

(Autor: Anastasia Umrik)


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