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Signale zur schulischen Inklusion auf Grün?

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Zuhörer in einem großen Hörsaal, im Vordergrund eine junge Frau im Rollstuhl.

Am 4. Mai fand in Rostock der 3. Inklusionskongress statt. Dazu hatte das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und das Institut für Qualitätsentwicklung Mecklenburg-Vorpommern (IQMV) eingeladen. Bei der Fachtagung stand die konkrete Umsetzung der Inklusion an den Schulen in Mecklenburg-Vorpommern im Mittelpunkt, nachdem im Januar dieses Jahres eine Expertenkommission Empfehlungen für die Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems in Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2020 vorgelegt hatte.

Nach den zum Teil sehr kontroversen Diskussionen auf den ersten beiden Inklusionskongressen im vergangenen Jahr stellte sich für mich die Frage, wie weit man tatsächlich mit der Inklusion gehen wolle. Zu deutlich war die Erinnerung an die Ausführungen von Bildungsminister Mathias Brodkorb, der sich im Mai 2012 klar für ein Inklusionsverständnis im weiten Sinne ausgesprochen und damit einer "Schule für alle" eine klare Absage erteilt hatte: "Wir sollten uns davor hüten, uns zu übernehmen. Wir müssen alle zusammen einen Kompromiss finden", hatte er damals gemahnt. An eine längst vergangene Zeit mutete an jenem Tag der Auftritt eines gewissen Prof. Dr. Egon Flaig an, der behauptete: "Geistig Behinderte können nicht gleichberechtigt am Leben der Gesellschaft teilhaben, sie leiden unter der Inklusion. Hochkulturen müssen selektieren und Eliten bilden."

Auflösung des gegliederten Schulsystems?

Auf dem 2. Inklusionskongress im November wurde dann darüber diskutiert, ob eine inklusive Schule für alle nicht konsequenterweise die Auflösung des gegliederten Schulsystems zur Folge haben müsste. Prof. Dr. Ulf Preuss-Lausitz (TU Berlin) sah in der Inklusion eine Chance, die Vision von einer Einheitsschule voranzutreiben, denn das bestehende deutsche gegliederte System bringe nur mittelmäßige Leistungen hervor und würde die größte Leistungsschere aller von PISA untersuchten Staaten aufweisen. Begabtenforscher Prof. Dr. Kurt Heller (LMU München) bestritt diese Auffassung vehement und zog das Fazit, dass eine inklusive Schule im engeren Sinne eine völlig utopische Vorstellung sei. Der ohnehin knappe Etat könnte effizienter in das bestehende Schulsystem gesteckt werden.

Expertenkommission befürwortet Inklusion in einem weiten Sinne

Eine Expertenkommission (EPK) hat nun Empfehlungen erarbeitet, auf deren Grundlage ein inklusives Bildungssystem bis zum Jahr 2020 umgesetzt werden soll. Schaut man sich den Bericht mit diesen Empfehlungen einmal genauer an, findet man dort ein ganz klares Bekenntnis zur Inklusion in einem weiten Sinne. Kinder und Jugendliche mit und ohne besondere Förderbedarfe sollen demnach gemeinsam und zieldifferent unterrichtet werden. Unterschiedliche Schulabschlüsse, die auf differente nachschulische Anforderungen vorbereiten und hinleiten (wie die derzeitigen Abschlüsse der Förderschule, der Berufsreife, der Mittleren Reife sowie der Hochschulreife) werden dabei jedoch nicht in Frage gestellt. Es wird zwar in dem Bericht darauf verwiesen, dass ein mehrgliedriges Schulsystem letztlich im Konflikt zum Grundgedanken der Inklusion stehe und auch aus pädagogischen Gründen Formen des längeren gemeinsamen Lernens wünschenswert schienen. "Aber auch ohne die 'Systemfrage' an den Anfang aller Bemühungen zu setzen", heißt es konkret im Expertenbericht, "lassen sich auch gegliederte Schulsysteme stärker in Richtung Inklusion entwickeln." Demzufolge hätten sich alle Schulformen (Grundschulen, Regionale Schulen, Gymnasien, Gesamtschulen ...) der Inklusion zu öffnen und seien dazu aufgefordert, hierfür Konzepte zu entwickeln sowie, wo vorhanden, fortzuschreiben.

Zur konkreten Situation in Mecklenburg-Vorpommern

Der Expertenbericht macht darauf aufmerksam, dass Mecklenburg-Vorpommern im Schuljahr 2010/11 mit einem Anteil von insgesamt 10,1 % zu den Bundesländern mit dem höchsten Anteil von Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf im Gesamtsystem Schule gehörte (bundesdeutscher Durchschnitt der sog. Förderquote im Schuljahr 2010/11: 6,2 %). 71 % aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen im nordöstlichen Bundesland an Förderschulen. Fast 75 % davon sind Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung.

Die Expertenkommission empfiehlt, diese Situation Schritt für Schritt zu verändern. Dazu will sie unter anderem mit Einführung der inklusiven Grundschule die Schulen für die genannten Förderschwerpunkte zugunsten einer Förderung im Gemeinsamen Unterricht auslaufen lassen. Einer kleinen Anzahl von Kindern mit schwerwiegenden Problemen im sozial-emotionalen Bereich sollen dennoch temporär angelegte Sonderbeschulungsmaßnahmen vorgehalten werden. Für Kinder aller anderen Förderschwerpunkte sollen "Schulen mit spezifischer Kompetenz" entwickelt werden. Um eine wohnortnahe Beschulung zu realisieren, sollen für den Zielzeitraum bis 2020 mindestens in jedem Alt-Kreis bzw. in jeder ehemaligen kreisfreien Stadt inklusive Beschulungsmöglichkeiten entstehen, indem Schulen entsprechend ausgestattet werden.

Und welche Farbe zeigt nun die Ampel auf dem Weg zur Inklusion?

Grün sicherlich nicht. Angesichts der geführten Diskussionen auf bisher drei Kongressen hält sich meine Hoffnung auf tatsächliche Inklusion und damit auf Chancengleichheit aller Schülerinnen und Schüler in Grenzen.


Mehr zum Thema:
Das Handlungsfeld "In der Schule" der Aktion Mensch
"Schule für alle gestalten": Das Praxisheft der Aktion Mensch für Lehrerinnen und Lehrer (PDF-Dokument)
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(Autor: Margit Glasow)


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