Wie ich mit meiner Behinderung durch Studium und Uni gekommen bin.
"Und Marie, was hast du nach deinem Studium vor?" In absehbarer Zeit werde ich meine Abschlussarbeit abgeben. Ich habe Philosophie und Germanistik und dann Literaturwissenschaft im Masterstudiengang studiert. Mein Studium hat mir im Großen und Ganzen viel Spaß gemacht und ist mir bis auf einige Ausnahmen nach eigener Ansicht relativ leicht gefallen. Aber wie habe ich mich eigentlich mit meiner Behinderung in der Uni und im Studienalltag gefühlt? Noch so eine Frage, die ich beantworten soll. Also Zeit für ein erstes Resümee. Die Abschlussarbeit kann heute noch ein bisschen warten.
Fotogedächtnis und Buchstabenproduzentin
Ich sitze am Computer und denke. In meinem Kopf reihen sich Buchstaben zu Wörtern und Wörter zu Sätzen und Sätze zu Absätzen. Ich schreibe an meiner Abschlussarbeit: die Bedeutung eines bestimmten Autors für Identitätskonflikte in der Gegenwartsliteratur. Die Sprache des Autors ist sehr gewöhnungsbedürftig und orientiert sich an der Jugendsprache von deutsch-türkischen Einwanderern. Immer wieder unterbreche ich meine Gedanken, um Wörter und Sätze nach dem Glücksradprinzip zu buchstabieren, also: Z wie Zeppelin, A wie Anton, I wie Ida, M wie Marta, O wie Otto, G wie Gustav, L wie Leopard, U wie Ullrich. Das kostet Zeit, ist mitunter aber auch sehr lustig. In Vorlesungen und Seminaren haben meine Assistentinnen das mitgeschrieben, was sie verstanden haben und ich habe danach das ergänzt, was ich mir merken konnte. Viele sagten dann zu mir: "Wow, du musst ein fotografisches Gedächtnis haben." Ich weiß nicht, ob ich das wirklich habe, denn ich kenne es ja nicht anders. Ich konnte meine Hände noch nie bewegen, jedenfalls nicht so gut, um damit selbständig Texte zu schreiben. Auch wenn es mitunter länger dauert, fällt es mir nicht sonderlich schwer, ganze Texte im Kopf vor mir zu sehen und dann zu buchstabieren. Das einzige, worum ich meine Kommilitonen manchmal beneidet habe, war das Herummalen auf den Tischen oder Blöcken, wenn die Veranstaltung langweilig wurde.
Harte Überzeugungsarbeit
Das Anstrengendste, neben dem Organisatorischen, war es mitunter, die Dozenten davon zu überzeugen, das auch ich trotz meiner Körperbehinderung die gleichen oder ähnliche Leistungen schaffen kann wie meine Kommilitonen. Dass ich also keine Sonderbehandlung oder allzu große Rücksichtnahme brauche. Zu Beginn des Semesters wurden in der Regel die Referate und Seminararbeiten vergeben. Ich habe es nur ein- oder zweimal erlebt, dass ich bei diesen Verteilungen nicht aufgerufen und übergangen worden bin. Danach habe ich mich dann gemeldet und mich auch für ein Referat zur Verfügung gestellt. Ich habe ihnen erklärt, dass es keine großen Probleme gäbe, und nach meinem Referat waren sie dann beeindruckt und zufrieden. Manchmal lobten sie mich auch ein wenig zu viel. Aber ich habe das unter Lerneffekt für sie und einem kleinen Behindertenbonus für mich verbucht, und so war es okay.
Zu Beginn meines Bachelorstudiums versuchte ein Professor, den Blickkontakt zu umgehen. Als die Referate verteilt wurden, wurde ich nicht aufgerufen. Ich meldete mich und fragte nach. Der Professor sah auf sein Blatt und sagte: "Sie können in Ihrer Situation kein Referat halten. Am besten, Sie suchen sich ein anderes Seminar, denn ohne Referat wird es schwierig bei mir!" Ich habe mir dann tatsächlich ein anderes Seminar gesucht, denn ich hatte in diesem Semester noch viele andere Leistungen zu erbringen und keine Kapazitäten für eine Auseinandersetzung mit diesem Professor. Aber sonst macht es mir Spaß, gerade solche Menschen zu erstaunen und sie davon zu überzeugen, dass behindert nicht gleichbedeutend mit blöd ist. Im letzten Semester meines Masters, also knapp vier Jahre nach dem Vorfall, habe ich die Gelegenheit bekommen, bei diesem Professor ein Referat zu halten, und seitdem hat er mich, zurückhaltend zwar und sehr leise, gegrüßt und mich in seinen Seminaren auch mal dran genommen.
"Sie können immer zu mir kommen. Wir finden eine Lösung!"
Natürlich ist das Verhalten dieses Professors ein Extrembeispiel. Die meisten meiner Dozenten haben mich rücksichtsvoll behandelt und sind entgegenkommend gewesen. So durfte ich zum Beispiel Klausuren bei ihrer Sekretärin schreiben oder in Ausnahmefällen auch mal zuhause, weil sie niemanden gefunden haben, der mich und meine Assistentin beaufsichtigen kann. Ich habe für Seminararbeiten und Klausuren immer länger Zeit bekommen und konnte sehr viel über Email und Telefon regeln, damit ich nicht extra zur Sprechstunde kommen musste. Das war für mich eine große Erleichterung. Auch wenn es wieder eine Sonderbehandlung darstellt. Ich habe versucht, diese Art von Service nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen und alles so zu machen wie meine Mitstudenten. Ich glaube, das hat viele meiner Dozenten beeindruckt, und für mich ist das Gefühl gut, nicht in Watte gepackt zu werden, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Während meines Philosophiestudiums hatte ich einen Professor, der mich mit seiner Art sehr beeindruckt hat. Nach seiner ersten Vorlesung kam er zu mir, stellte sich mir vor und sagte mir: "Sie können immer zu mir kommen. Wir finden eine Lösung!" Später am Ende seiner Laufbahn in der Uni, als wir schon ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatten, habe ich dann erfahren, dass er seiner Sekretärin mal ein Text diktiert und buchstabiert habe, um nachzuempfinden, wie es für mich ist. Ich war beeindruckt von so viel Einfühlungsvermögen, und er war beeindruckt von meiner Ausdauer.
So, jetzt habe ich aber lang genug nachgedacht. Die Datei mit meiner Abschlussarbeit wartet. Also Kopf umschalten und los diktieren: "Die Identität in der Gegenwartsliteratur ist ein großes Thema und hat schon viele Autoren beschäftigt ..."
Mehr zum Thema:
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Die Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium
Mehr Infos zum Thema Studium und Behinderung beim Familienratgeber
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(Autor: Marie Gronwald)