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Eine Begegnung mit Hindernissen

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Immer offen und unvoreingenommen auf andere zugehen – manchmal ist das nicht so leicht. Es lohnt sich aber, findet Anastasia Umrik. Hier schreibt sie über eine peinliche Begegnung und was sie daraus mitgenommen hat.
 
 

Eine Strichzeichnung: Eine Frau im Rollstuhl sagt: "Wow, sexy Hintern! Hoffentlich spricht er mich gleich an!" Ein Mann sagt: "Die ist ja echt sexy... aber ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll. Hoffentlich sagt sie gleich etwas."

„Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen...?“ Die Frau lächelt. Sie holt Luft, es kostete sie sichtbar Mut, mich anzusprechen, und sie will ihre Frage stellen... doch dazu kommt es nicht, ich unterbreche sie.

„Ja, ja, ich bin die mit dem Fotoprojekt von anderStark. Geeeeenau, ich war schon öfter im Fernsehen. Vielen Dank, mir geht es gut, und nein, meine Muskelerkrankung bereitet mir keine allzu großen Probleme. Freut mich, dass Sie mich angesprochen haben! Wirklich!“

Wir starren uns an. Ich weiß nicht, wie lange. Irgendwann sagte sie schüchtern:

„Oh... ich wollte Sie eigentlich nur fragen, woher Sie diese schönen Schuhe haben!“

Wir lachen. Beide.

Ich schäme mich. Sehr.

Eine Strichzeichnung: Eine dünne Frau sagt: "Ui, die hat ja hübsche Schuhe! Ich muss gleich mal fragem, wo man sie kaufen kann." Eine dicke Frau sagt: "Alle sprechen mich nur auf mein Übergewicht an. Ich bleibe lieber zuhause."

Was ist passiert?

Ich bin schlecht gelaunt aufgewacht. Schon als ich vor die Tür ging, wusste ich, das wird heute ein ganz schlechter Tag. Insgeheim hoffte ich, dass mir keiner begegnet und mich keiner anspricht. Gerne hätte ich eine Sonnenbrille auf der Nase gehabt, aber bei dem Hamburger Wetter wirkt das schnell unangebracht. Regen, kalt, schlechter Morgen, negative Begegnungen in den letzten Tagen. Das alles konnte keiner wissen, auch nicht die Frau, die meine Schuhe schön fand.

Gewisse Unsicherheiten bei der ersten Begegnung gibt es oft, und es kostet SOWIESO immer eine  Überwindung, jemanden anzusprechen. Ganz egal, ob man sagen möchte:

„Entschuldigung, du hast da an der Nase... also ja, genau, etwas höher“ oder nur „Wow, dein Regenschirm ist aber schön!“

Eine Strichzeichnung: Ein Kind sagt: "Ich kann dir nicht über die Straße helfen, meine Oma ist letzte Woche gestorben." Eine alte Frau mit Rollator sagt: "Diese unfreundliche Jugend! Wir waren damals ganz anders."

Was ist zu ändern?

Lasst uns nicht mehr so streng zueinander sein. Lasst uns – auch wenn unsere Erfahrung etwas anderes fordert – offen, unvoreingenommen und herzlich sein. Manchmal sind die Dinge anders, als sie zunächst zu sein scheinen.

 

 

Linktipps:

Tanzende Herzen. Mareice Kaiser und Anastasia Umrik über ihre erste Begegnung – aus ihrer jeweiligen Perspektive

Zu früh. Heiko Kunert über eine unverhoffte Begegnung mit einem Mann, der wirklich alles über Blinde weiß – oder das zumindest denkt

Behinderung ausgeblendet. Mirien Carvalho Rodrigues über Begegnungen in ihrem Job, bei denen ihre Blindheit kein Thema ist

Auf einen Abend in der Sushi-Bar. Wiebke Schönherr über ein Treffen von drei besten Freundinnen – von denen eine Rollstuhl fährt

(Anastasia Umrik)


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