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Inklusion ohne Bundesteilhabegesetz - geht das?

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Plakat mit der Aufschrift: Bundesteilhabegesetz jetzt!

Über die Notwendigkeit, endlich ein Bundesteilhabegesetz auf den Weg zu bringen

Da steh ich nun mit meinem Vorsatz, eine Veranstaltung hier in Rostock barrierefrei zu organisieren. Immerhin habe ich vollmundig behauptet, es soll eine inklusive Veranstaltung werden - also offen für alle Menschen, egal, welche Einschränkung die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben. Einen ebenerdigen Raum zu finden, den Menschen mit Rollstuhl bequem befahren können, ist nicht (mehr) so schwierig. Doch Barrierefreiheit insbesondere für Menschen mit Hörbehinderungen zu garantieren, erweist sich als problematisch. Vor allem die Kosten für eine induktive Höranlage für schwerhörige Menschen sind hoch, ebenso wie die Kosten für einen Gebärdensprachdolmetscher für gehörlose Menschen. Wer soll das bezahlen? Kleine Vereine haben dafür häufig nicht die Mittel. Und warum, so frage ich mich, fallen überhaupt Kosten an, damit alle Menschen gleichberechtigt an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können? Welche Diskriminierung tritt hier zutage?

Die Probleme hinsichtlich der gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sind vielfältig, obwohl Inklusion - also die Teilhabe von Anfang an und für jeden - ein geflügeltes Wort seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland geworden ist. So schildert mir Anna-Maria Courtpozanis aus Roßdorf bei Darmstadt ähnliche Erfahrungen mit der nicht barrierefreien Kommunikation. Anna-Maria ist blind und arbeitete bis Oktober 2012 als Expertin für eine barrierefreie Internetgestaltung bei Web for all, meldete sich aber dann zunächst arbeitslos, bis sie in die Freiberuflichkeit ging. Bei ihrem Besuch bei der Agentur für Arbeit fühlte sie sich diskriminiert: "Ich empfand es als eine absolute Ungleichbehandlung, dass ich kein einziges Formular selbst ausfüllen konnte, sondern dafür immer Hilfe brauchte. Die Formulare wurden mir von der Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur in Darmstadt nur in Papierform überlassen, das digitale Formular jedoch habe ich als blinde Nutzerin nie unter die Finger oder ins Ohr bekommen. Ich möchte aber meine Geschäfte eigenständig erledigen können und nicht immer jemanden bitten müssen."

Reform der Eingliederungshilfe dringend nötig

Bisher werden persönliche, technische oder materielle Hilfen für Menschen mit Behinderung in den Bereichen Bildung, Arbeit, Rehabilitation, Gesundheit und Freizeit über die so genannte Eingliederungshilfe geregelt, die im Sozialgesetzbuch XII festgeschrieben ist. Im Jahre 2011 entfielen darauf bundesweit immerhin 14,4 Mrd. Euro für über 700.000 Berechtigte. In Rostock - um einmal einen kommunalen Vergleich zu haben - werden 2014 für die Eingliederungshilfe 38,2 Mio. Euro aufgewendet (2.359 Fälle). Dabei entscheiden die Kostenträger über den Bedarf nach Haushaltslage und oft anhand problematischer Kriterien. Wer Eingliederungshilfe will, muss sein Einkommen und Vermögen offenlegen und bis auf einen Selbstbehalt von 2.600 Euro einsetzen. Aufgrund dieser Benachteiligungen in der gegenwärtigen Sozialgesetzgebung fordern Menschen mit Behinderung und ihre Verbänden seit vielen Jahren eine Reform der Eingliederungshilfe. Sie wollen ein Gesetz, das sich an der UN-BRK orientiert und die Chance bietet, die Türen für Menschen mit Behinderung auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu öffnen. Dabei sollen die Hilfen für behinderte Menschen einkommens- und vermögensunabhängig gestaltet und diese aus der Systematik der Sozialhilfe herausgelöst werden. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch ein Bundesteilhabegeld.

Umsetzung eines Bundesteilhabegesetzes bleibt zähflüssig

Noch immer ist nicht viel passiert, obwohl viele Vorschläge, Positionspapiere und sogar Gesetzesentwürfe von Behindertenverbänden oder aus der Wissenschaft zur Neuregelung der Teilhabeleistungen und -ansprüche vorliegen. So hat das Forum behinderter Juristinnen und Juristen im Mai 2013 einen umfassenden Gesetzesentwurf auf den Tisch gelegt, der nicht nur Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit garantiert, sondern auch das Recht auf Leichte Sprache im Umgang mit Behörden sowie den Anspruch auf eine barrierefreie Kommunikation für blinde, seh- und hörbehinderte Menschen. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD kommt zwar mit der Ankündigung daher, behinderte Menschen "aus dem Fürsorgesystem heraus(zu)führen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiter(zu)entwickeln". Das Gesetz soll 2016 verabschiedet und noch in dieser Wahlperiode in Kraft treten. Ob und vor allem in wie weit das wirklich geschieht und die Vorschläge der Menschen mit Behinderung darin Berücksichtigung finden werden, ist ungewiss.

Ungewiss ist vor allem die Finanzierung des Gesetzes, denn die Bundesregierung stellt die Regelungen dieses Gesetzes unter einen offenen Kostenvorbehalt. Sie betont, dass es eine Herausforderung sein wird, die Balance zwischen Wünschenswertem und Finanzierbarem zu finden. Doch wenn die Regierung nicht bereit ist, für die Gewährleistung der vollen und wirksamen Teilhabe aller Menschen mit Behinderung gemäß der UN-BRK auch Geld für deren Umsetzung in die Hand zu nehmen, wie soll da erreicht werden, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen haben, in der Gemeinschaft zu leben, ohne das ihnen eine Lebensform aufgezwungen wird? Wie soll ohne die Bereitstellung der finanziellen Mittel eine inklusiv ausgestaltete Infrastruktur und umfassende Barrierefreiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen geschaffen werden? Wie soll der Anspruch auf bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabeleistungen festgeschrieben werden?


Linktipps:
Recht und Gesetz: Infos über Gesetze und ihre Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen beim Handlungsfeld "Selbstbestimmt leben" der Aktion Mensch
Bundesteilhabegeld - guter Ansatz mit vielen offenen Fragen. Ein Blogbeitrag von Michael Wahl über den schwarz-roten Koalitionsvertrag aus Sicht von Menschen mit Behinderung
Gesetz als Problemlöser. Ein Blogbeitrag von Michael Wahl über Eingliederungshilfe, Bundesleistungsgesetz und die Forderungen der Verbände der Menschen mit Behinderung
"In Gesetz und Gesellschaft verankern". Ein Interview von Katja Hanke mit Dr. Martin Theben über die Behindertenrechtskonvention im deutschen Rechtsalltag
Wie ernst meinen wir es mit der Inklusion? Ein Blogbeitrag von Margit Glasow über ein Gesetz zur Sozialen Teilhabe und gesetzliche Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung
Online-Petition: Teilhabegesetz jetzt!

(Autor: Margit Glasow)


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