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Der Club der lustigen Mäuse

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Schwarz-weiß-Foto von Kindern mit Behinderungen, die in einen VW-Bus einsteigen

Als einen der ersten Antragsteller überhaupt förderte die Aktion Sorgenkind 1965 das Duisburger Jugendrotkreuz mit einem VW-Bully. Die Idee von Selbstbestimmung und aktiver Lebensgestaltung, für die das Auto stand, lebt bis heute weiter.

Duisburg 1965. Eine typische Großstadt im aufstrebenden westdeutschen Wirtschaftswunderland. Im Schatten des steigenden Wohlstandes: vor allem Kinder mit schweren körperlichen oder geistigen Behinderungen. Wenn sie zu Hause leben, werden sie oft sogar vor der eigenen Nachbarschaft versteckt. Förderangebote gibt es nicht. Während des Nationalsozialismus waren Menschen mit Behinderungen systematisch umgebracht, und die wenigen bestehenden Förder- und Unterstützungsstrukturen zerschlagen worden.

In Duisburg wird in den 50er Jahren das Rote Kreuz (DRK) neu gegründet und mit ihm das JRK, das Jugendrotkreuz. Um Angebote für Kinder mit Behinderungen überhaupt entwickeln zu können, lässt die erste Leiterin des JRK- Duisburg zunächst einmal Adressen sammeln. Auch an dieser Stelle wirkt die NS-Zeit nach. Da die Register der Gesundheitsämter zur Ermordung der Menschen mit Behinderungen missbraucht worden waren, ist weder bei staatlichen Stellen noch bei freien Trägern bekannt, wo in Duisburg Kinder mit Behinderungen leben. "Im Folgenden gingen wir JRK'ler - alle selbst zwischen zwölf und 18 Jahre alt - von Haus zu Haus und sammelten Adressen, um die Eltern nachher anschreiben zu dürfen", erinnert sich Heino Zimmermann, Urgestein des JRK-Duisburg. Daraus entstand 1958 der "Der Club der lustigen Mäuse", ein monatlicher Treff für zunächst rund 35 bis 40 geistig, körperlich oder auch mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche. Treffpunkt war in der Stadtmitte, am wohl noch heute verkehrsgünstigsten Punkt Duisburgs, am Ostausgang des Hauptbahnhofs, in den Räumen der Männerbereitschaft / Frauenbereitschaft des Roten Kreuzes. "Es wurde gebastelt, aber auch Ostern und Weihnachten gefeiert", so Zimmermann, "oder einfach nur getanzt."

Der Club der lustigen Mäuse stellte das JRK von Beginn an vor riesige logistische Herausforderungen. "Die Kinder wurden zum großen Teil in ihren Rollstühlen abgeholt und nachher wieder nach Hause gebracht." Dazu stellten Duisburger Firmen vereinzelt, aber eben unregelmäßig, Fahrzeuge zur Verfügung. "Darüber hinaus gab es nur Straßenbahn, Bus oder zu Fuß gehen", erinnert sich Zimmermann. "Alles war sehr beschwerlich, vor allen, da es nichts behindertengerechtes gab."

Als einem der ersten Antragsteller überhaupt förderte die Aktion Sorgenkind dem Club der lustigen Mäuse dann 1965 einen VW-Bully. "Es war ein roter-weißer Bully, auf dem in der Schrift, die ich damals aus dem Fernsehen kannte, Spende der Aktion Sorgenkind stand." Das JRK konnte nun geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche selbständig zu Hause abholen, zum Club bringen und wieder heimfahren. Zimmermann entwickelte schon früh auch ein Gefühl dafür, was dies für die Kinder und Jugendlichen bedeutete: "Ein eigenes Freizeitangebot, ohne Eltern und nicht zu Hause - was das für diese Kinder damals bedeutete, können wir heute kaum begreifen." Auch für die Eltern muss das Angebot eine "Befreiung und eine unglaubliche Hilfestellung" gewesen sein.

Bereits zu Beginn der 60er Jahre hatten die lustigen Mäuse erste Tagesausflüge organisiert. Zum Beispiel zu einem der vielen Badesseen rund um Duisburg oder zum Flughafen im benachbarten Düsseldorf. Mit dem eigenen rot-weißen Bully wurde der Radius größer. 1965 fuhr der Mäuseclub in den Sommerferien bereits einige Tage an den Edersee. Heino Zimmermann verklärt die Probleme bei den Ausflügen des Mäuseclubs nicht: "Noch in der 70er und 80er Jahren wurden wir bei Ausflügen regelmäßig aus Essenslokalen mit dem Hinweis verwiesen, dass die gesunden Menschen in ihrer Freizeit den Anblick von Behinderten nicht mögen." Es habe so gut wie keine Behindertentoiletten und Rampen, dafür aber überall Treppen und Stufen gegeben.

Der Club der lustigen Mäuse wurde erst in JRK-Gruppe Henry Dunant und dann vor 22 Jahren in JRK - Gruppe "Helen Keller, Behinderte / Nichtbehinderte" unbenannt. Geleitet wird die Gruppe noch heute von Ilse Zimmermann, Heinos Frau, die 1979 dem JRK-Duisburg beitrat. Der erste rot-weiße Bully ist längst verschrottet. Die Idee von Selbstbestimmung und aktiver Lebensgestaltung, für die er stand, aber lebt in Duisburg weiter.

(Autor: Christian Schmitz)


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