Erstmals lehrt seit diesem Wintersemester an der Humboldt-Universität Berlin eine Professorin "Disability Studies". Der Fachbereich der Geschlechterstudien setzte sich intensiv dafür ein, diesen Lehrstuhl zu schaffen. Die Berlinerin Lisa Pfahl hat ihn bekommen. Als Juniorprofessorin will sie nun erforschen: Welche Behinderungen schafft der Arbeitsmarkt?
Tür auf und ein Blick aus Lisa Pfahls neuem, noch spärlich eingerichteten Arbeitszimmer hinaus in die Flure der Humboldt-Universität: StudentInnen sitzen in Grüppchen an Tischen oder auf dem Fußboden, sie halten Bücher in der Hand, tippen in ihre Laptops oder diskutieren mit ihren KommilitonInnen. Ein Studentenleben wie im Bilderbuch, so sieht es zumindest aus. Doch viele von denen, die da sitzen, können vermutlich nicht so studieren, wie sie es sich wünschen. Sie fühlen sich ausgeschlossen, behindert.
Wie macht die Gesellschaft Behinderung?
Tür zu, zurück in Lisa Pfahls Arbeitszimmer. Dort zitiert zur selben Zeit die Professorin eine Studie des Deutschen Studentenwerks, die kürzlich deutschlandweit an Universitäten erhoben wurde und in der unter anderem gefragt wurde, wie viele StudentInnen sich in ihrem Studium behindert fühlen. Es sind fast 200.000 Studierende, rund acht Prozent. "Das sind oft unsichtbare Formen von Behinderung", sagt Lisa Pfahl. "Wie etwa psychische Beeinträchtigungen. Die sind nicht von Anfang an da, die entstehen durch Leistungsdruck und Zukunftsängste." Ein echter Disability-Studies-Satz. Und Lisa Pfahl, die vor ihrer Professur über das Sonderschulsystem promoviert hat, fügt den nächsten hinzu: "Jeder Ort schafft seine Behinderung."
Am Beginn jeder Forschung steht in der Regel eine Frage. Nicht so bei den "Disability Studies". Dort wird zuallererst etwas "in Frage" gestellt: Der bisherige Begriff der Behinderung nämlich.
Jahrzehntelang gab es zum Thema Behinderung nur Forschungen in der Medizin oder in der Pädagogik. Sie beschäftigten sich damit, wie man festlegen kann, wer behindert ist und wie man damit am besten umgehen kann. Doch seit einigen Jahren interessieren sich Forscher zunehmend für die andere Seite der Medaille: Unter welchen Bedingungen funktionieren bestimmte Bereiche in der Gesellschaft, so dass manche Menschen von ihr ausgeschlossen werden, weil sie nicht teilnehmen können? Oder weil andere bestimmen, dass sie nicht teilnehmen dürfen? Wie macht die Gesellschaft Behinderung? Und wer fühlt sich eigentlich wodurch behindert? "Das medizinische Modell muss hinterfragt werden, weil es viele Aspekte von Behinderung vernachlässigt", sagt Pfahl. Und weil es auch Menschen mit Behinderung irgendwie vernachlässigt, denn sie selbst wurden selten zu ihren Erfahrungen befragt. "Wir wollen Menschen mit Behinderung mehr in die Wissenschaft bringen, wir brauchen ihre Inklusion in die Forschung".
Als Disziplin etabliert
Die Disability-Studies, die erstmals in den 1980er Jahren in Großbritannien und den USA populär wurden, setzen sich an Deutschlands Hochschulen zwar langsam, aber konsequent durch. Gab es früher Professuren in dieser Richtung nur in der Rehabilitationswissenschaft, so nahm 2008 erstmals eine Professorin den neuen Forschungszweig in ihren Titel auf: Anne Waldschmidt lehrt seit damals an der Universität Köln als Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability-Studies. Ihr folgte Theresia Degener 2010 an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe mit dem Titel Professorin für Recht und Disability Studies.
Nun gibt es in Berlin erstmals eine Juniorprofessur in Deutschland, die ausschließlich "Disability Studies" in ihrem Namen trägt. Die Forschungsrichtung hat sich endgültig emanzipiert.
Lange wird Lisa Pfahl nicht alleine bleiben. Zum Sommersemester bekommt sie eine Kollegin an der Alice-Solomon-Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin. Ab April wird dort Swantje Köbsell eine Professur mit dem gleichen Titel annehmen.
(Autor: Wiebke Schönherr)