Glück am Ende der Hoffnungslosigkeit
An einem Herbsttag in Berlin ist es sechs Monate her, dass Oli D. eine Wohnung sucht. Berlin hat gut 1,5 Millionen Mietwohnungen, man müsste meinen, ein paar Quadratmeter seien auch für den 27-Jährigen zu haben. Doch schon 15 Wohnungen hat er angeschaut, über 50 Anzeigen kontaktiert, nichts ist herausgekommen.
Um Hilfe bei der Suche zu bekommen, schaut Oli zwei Mal pro Woche bei der Berliner Starthilfe vorbei, einem Verein, der sich unter anderem um Menschen mit Lernschwierigkeiten kümmert. Zu letzterer Gruppe zählt sich Oli. Was ihn ausmacht: Er ist ein sehr ruhiger Mann, einer, der lieber ein Wort zu wenig als zu viel sagt.
Und so wirkt seine Zwischenbilanz über die endlose Wohnungssuche umso überlegter: "Ich werde weiter suchen", sagt er an dem Herbsttag, "aber ich glaube nicht, dass ich etwas finde."
Erst Wohnung, dann Ausbildung
Oli ist Hartz-IV-Empfänger, will bald einen Ausbildungsplatz als Koch finden. Doch bevor er dieses Projekt angeht, will er eine eigene Bleibe haben. Sein Ziel: betreutes Einzelwohnen. "Am liebsten will ich in Reinickendorf bleiben", erzählt Oli noch. In diesem nördlichen Berliner Bezirk wohnt er momentan mit seinem Vater.
Die Absage kommt meistens schon vor der Besichtigung. Regelmäßig geht Oli mit seinem Betreuer von der Starthilfe, Tim Krämer, die Anzeigen im Internet durch. Weil er sich nicht selbst traut, bei den Hausverwaltern anzurufen, übernimmt das Krämer.
Am andere Ende der Leitung geben ihm die Leute meist die gleiche Antwort: "ALG-II-Empfänger, das machen wir nicht!". Wenn er dann noch erklären würde, dass Oli wegen seiner Lernschwierigkeiten betreut wird, würde überhaupt nichts mehr gehen, ist sich Krämer sicher. "Eigentlich würde wir gerne alles so transparent wie möglich machen. Aber das wäre nicht von Vorteil", sagt er.
Zwei Monate später steht Oli an einem Freitagabend in Reinickendorf und nimmt den nächsten Anlauf. Eine Ein-Zimmer-Wohnung sucht einen Nachmieter, Hartz-IV-Empfänger werden sogar akzeptiert. Oli hat die erste große Hürde übersprungen. Doch er kommt nicht weiter. Es ist der Tag, an dem in Berlin ein Schneesturm fegt. Oli steht vor der Wohnung. Die Tür ist verschlossen. Der Mieter musste kurzfristig weg. Besichtigung abgesagt. Die Maklerin drückt Oli noch schnell Papiere fürs Jobcenter in die Hand, um eine Übernahme der Miete genehmigt zu bekommen.
Zurück auf der Straße, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, zuckt Oli nur schicksalsergeben mit den Schultern, und sein Betreuer sagt zu mir: "Jetzt haben Sie gleich einen richtigen Eindruck von der Wohnungssuche in Berlin bekommen."
Keine hohen Ansprüche
Fünf Tage später, gleiche Wohnung, Versuch Nummer Zwei. Oli hat sich bereits die Bestätigung vom Amt geholt und auch alle anderen Unterlagen dabei. Vor der Wohnung wartet eine Menschenschlange aus gut dreißig Interessenten. Oli streckt der Maklerin seine mitgebrachten Dokumente hin. Die Frau dankt und sagt beiläufig: "Kommen Sie nach der Besichtigung nochmal zu mir."
Zehn Minuten später ist er wieder da. Die Wohnung hat er schnell inspiziert. Spezielle Wünsche hat er nicht, nur zu hell sollte sie nicht sein: "Ich will nicht von der Sonne geweckt werden", erzählt er. Oli D. hat keine eigene Wohnung, aber einen eigenen Kopf.
Jetzt steht er vor der Maklerin und weiß nicht, was ihn erwartet. Die gut gelaunte Frau wedelt ein bisschen mit seinen Papieren, ordnet sie, nickt dann mit dem Kopf und sagt: "Sie sind der Einzige, der alle Papiere vollständig dabei hat. Sie haben die Wohnung." Oli steht da, zeigt keine Regung. Seine Begleiterin versichert mir: "Sie werden hier gerade Zeugin eines Wunders." Wenige Sekunden später nimmt Oli die Treppenstufen nach unten, die Hände hat er in seinen Jackentaschen vergraben. Von Freude keine Spur: "Ich glaube noch nicht, dass das klappt." Oli flüstert fast. Über acht Monate Wohnungssuche haben dem 27-Jährigen sämtliche Hoffnung auf ein glückliches Ende genommen. Eine Woche später muss Oli einsehen, dass er sich geirrt hat: Er unterschreibt den Mietvertrag.
Linktipps:
Das Handlungsfeld "Inklusion leben: Zuhause" der Aktion Mensch
"Gemeinsam wohnen": Die Broschüre zum neuen Förderprogramm der Aktion Mensch, das den Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt stellt (PDF-Dokument)
Barrierefreies Wohnen mit Hindernissen. Ein Blogbeitrag von Wiebke Schönherr über Barrieren bei der Wohnungssuche
Der Traum vom gemeinschaftlichen Wohnen - das Philosophicum-Projekt in Frankfurt. Ein Blogbeitrag von Eva Keller über ein inklusives Wohnprojekt in der Metropole am Main
Aber bitte mit Fahrstuhl! Ein Blogbeitrag von Katja Hanke über gelebte Inklusion in einer Berliner Wohngemeinschaft
(Autor: Wiebke Schönherr)