
Die Hände auf meinen Schultern wurden plötzlich ganz schwer. Der dynamische Mittdreißiger, der eben im Hellen noch vorlaut Sprüche geklopft hatte, stützte sich nun still auf mir ab. "Kann ich mich hier stoßen?", fragte er. Für ihn waren die ersten Schritte in vollkommener Dunkelheit verunsichernd, er fühlte sich hilflos, ausgeliefert... So ging es vielen Besucherinnen und Besuchern, die ich 2007 in das Hamburger Dunkelrestaurant Unsicht-Bar führte. Doch bei fast allen löste sich die Anspannung schnell, sobald ich sie zu ihrem Tisch geführt hatte, sie Platz genommen hatten. Schnell begannen die Gäste, den Tisch, das Besteck mit den Händen zu erkunden.
Manchmal saßen sie neben Fremden. Anders als in einem hellen Restaurant, sprachen hier in absoluter Dunkelheit die Gäste einander unverkrampft an. Hier kamen Menschen ins Gespräch, die sich in der Welt der Sehenden sicherlich niemals angesprochen hätten– visuelle Vorurteile spielten einen Abend lang keine Rolle. Das waren schöne Momente– auch für mich, den blinden Kellner.
Die Gäste genossen ihr Essen, versuchten zu schmecken, zu riechen, zu fühlen, was sie da auf dem Teller hatten. Manchmal errieten sie es sofort, häufig lagen sie komplett daneben. Und sie versuchten, Vermutungen über den Raum anzustellen. Viele meinten, sie seien in einem Keller, obwohl wir beim Eintritt keine einzige Stufe gegangen waren. Sie waren fasziniert davon, wie sicher und selbstverständlich wir blinden Kellnerinnen und Kellner durch den Raum gingen, wie wir servierten– in der Regel, ohne Gläser umzuschmeißen oder Suppen über die Gäste zu gießen. Und immer wieder bot sich die Möglichkeit zu einem kleinen Plausch: Ich beantwortete hunderte von Fragen über Blindheit– das eine oder andere Vorurteil konnte abgebaut werden.
"Ein wundervoller Abend", "ich bin ganz bewegt", "hat großen Spaß gemacht", sagten die Gäste, nachdem ich sie wieder ins Licht geführt hatte. Der Abend hatte sich für sie gelohnt– genau wie für die blinden Menschen, die mit ihrer Arbeit für ein Stück Normalität gesorgt hatten.
Weitere Informationen:
Inklusionsblog der Aktion Mensch: Blind im Internet: Kommunizieren auf Augenhöhe
Inklusionsblog der Aktion Mensch: Blind wohnen: Über Füße im Futter und verschollene Korkenzieher
Inklusionswebseite der Aktion Mensch– Menschen: Andy Holzer
(Autor: Heiko Kunert)