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Wettbewerb der Behinderungen?

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Marie Gronwald

Gestern habe ich eine Einladung zu einem Treffen meiner früheren Rollstuhl- Mädchengruppe erhalten. Wir haben uns, als wir Jugendliche waren, unter der Leitung einer Sonderpädagogin einmal die Woche getroffen, um zu quatschen, Spaß zu haben, uns über unsere Probleme mit unserer Behinderung austauschen. Mir haben diese Treffen immer sehr viel Spaß gemacht. Trotzdem habe ich auch schon damals das Gefühl gehabt, es gibt einen Wettbewerb zwischen uns, wer mehr oder weniger behindert ist. Aber gibt es wirklich eine Art Wettbewerb der Behinderungen?

Was ist eigentlich "behindert"für mich?

Ich falle immer auf, auf der Straße oder beispielsweise in der Uni, nicht nur wegen meiner Assistenten, die mich ständig begleiten. Ich ziehe Aufmerksamkeit auf mich, denn ich bin "anders", anders als die, die sich diese Fragen stellen. Heißt also, dass ich, weil ich anders bin, automatisch gleich ein Mensch bin, der behindert ist? Nein, natürlich nicht. Aber weil ich mich anders bewege, habe ich andere Bedürfnisse, und diese erfordern andere Dinge, wie Aufzüge oder Rampen. Wenn es die nicht gibt, fühle ich mich anders - behindert. Außerdem ist Behinderung für mich immer ganz stark mit dem Gefühl des Ausgleichs, mit dem Gefühl des Trotzdem verbunden.

Das Gefühl des Ausgleichens, oder: Immer dieses Trotzdem

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich gerade, was meine Leistungen in der Schule und in der Uni betrifft, den Lehrern oder Professoren häufig beweisen musste, dass ich auch mit meiner Behinderung die gleichen Leistungen oder Prüfungen erledigen kann wie meine Kommilitonen ohne Behinderung. Oft habe ich das Gefühl, dass ich immer ein bisschen mehr oder besser sein muss als die anderen. Beispielsweise bei Referaten. Dann gibt es eine Art Staun-Effekt, und ich habe das Gefühl, dass ich meine Behinderung überdeckt oder ausgeglichen habe.

Der Behindertenbonus: ein Gegenmittel zum Wettbewerbsgedanken?

Unter meinen Freunden, die keine Behinderung haben und auch keine Berührungsängste mehr, habe ich nicht das Gefühl, ständig übertrumpfen zu müssen. Denn es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten, und ich bin etwas Einzigartiges und Besonderes. Auch wenn es traurig ist, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es aufgrund von Fremd- und Selbstbildern immer die Tendenz gibt, sich besser und damit im Ranking der Behinderten höher aufzustellen. Ich habe also ein mulmiges Gefühl, was mein Treffen mit meiner Rollstuhlmädchengruppe morgen angeht. Ich sollte noch mal überlegen, welche Fortschritte ich gemacht habe. Oder vielleicht, ob ich überhaupt hingehen soll. Welche Erfahrung habt ihr unter Menschen mit Behinderung gemacht: Freundschaft oder Wettbewerb? Was führt dazu, dass ich oder andere Menschen mit Behinderungen immer in eine Art Wettbewerbssituation geraten? Ich kann nach meinen Erfahrungen sagen: Druck! Denn damit ich dieses Trotzdem aushalten kann und damit umgehen kann, muss ich einen Raum für mich schaffen, in dem meine Behinderung nicht so wichtig ist. Diesen Raum habe ich aus Leistungen und Bewunderung gebaut. Ich habe also das Trotzdem benutzt. Ist aber das Trotzdem dafür verantwortlich, dass es gerade unter Menschen mit Behinderung einen Sport gibt, sich oft untereinander zu vergleichen?

"Superopfer" oder "Superkrüppel"?

In den späten achtziger und neunziger Jahren, als ich aufgewachsen bin, wurde ich oft als ein Opfer meiner Behinderung und meines Zustands angesehen und behandelt. Ich habe Therapievorschläge, Geld oder Bonbons bekommen, oft auch Streicheleinheiten. Meine Mutter wurde häufiger gefragt, warum sie mich nicht mit mehr Therapien oder Operationen heilen will, damit es mir irgendwann besser geht oder ich gar wieder laufen könnte. Einige Freunde mit Behinderung erlebten noch viel extremere Reaktionen, etwa die Frage, warum die Eltern sie nicht in ein Heim gegeben hätten, oder warum sie sie überhaupt auf die Welt gebracht hätten; solch ein Leben wäre doch schließlich kein richtiges und gutes. Ich habe solche Worte zum Glück nicht gehört. Heute ist es oft so, dass es gerade im Fernsehen und bei Sportveranstaltungen eine große Tendenz gibt, den Menschen mit Behinderung zum Superstar zu machen. In diesem Zusammenhang taucht wieder mein Liebling, das Wort "trotzdem" auf. Ich bewege mich in einem Spannungsfeld zwischen Opfer und Superkrüppel und muss mich in diesem beweisen. Natürlich passiert es auch mir häufiger, dass ich zum Beispiel, wenn ich einen Bericht über jemand lese, der auch behindert ist, meinen Zustand mit seinem vergleiche. Ich glaube, das tut jeder, unabhängig von Behinderungen, aber meine These ist, gerade weil der Druck von außen so stark ist, vergleichen sich Menschen mit Behinderung untereinander häufig strenger oder kritischer, was zum Beispiel ihre Leistung bezüglich der Selbstständigkeit in der "nichtbehinderten" Welt angeht. So habe ich, wenn ich mit anderen Behinderten zusammen bin, häufiger das Gefühl, ich müsste zum Beispiel beweisen, dass ich länger im Rollstuhl sitzen kann als früher, mehr Projekte umsetzen kann oder meine Assistenten besser "im Griff habe". Mein Gefühl entsteht aus dem Druck heraus, nicht nur auf den Rollstuhl reduziert zu werden oder besser, zu beweisen, dass ich es geschafft habe, nicht nur auf den Rollstuhl reduziert zu werden.


Linktipps:
Von Mut und Enttäuschung. Ein Blogbeitrag von Carina Kühne über positive Erfahrungsberichte von Menschen mit Behinderung und ihren Familien
Klischees wett kämpfen. Ein Blogbeitrag von Raúl Krauthausen über das gesteigerte mediale Interesse an den Paralympics und Klischees in der Berichterstattung
Einmal nichts Besonderes sein. Ein Blogbeitrag von Margit Glasow über das Gemeinschaftsgefühl bei Treffen von Selbsthilfegruppen

(Autor: Marie Gronwald)


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