Erlebnisse auf vier Rädern bei Wind und Wetter
Ich habe mich oft gefragt, wie sich mein Rollstuhl bei den doch immer extremer werdenden Jahreszeiten und Temperaturunterschieden fühlt. Heute werde ich ihm mal eine Stimme geben und Episoden aus dem deutschen Jahreszeiten-Kalender berichten. Ich werde diese weder bewerten noch verändern. Sie sollen für sich und meinen Rollstuhl sprechen.
Hässliche Wolldecke: Auch ein Rollstuhl ist nicht farbenblind
Schon wieder unterwegs, und das trotz dieser Kälte. Ich habe schon versucht, lauter zu quietschen, um Marie davon zu überzeugen, bei diesen Temperaturen nicht vor die Tür zu gehen, aber sie sagt zu ihrer Assistentin, sie solle sie bitte sehr warm einpacken und die Wolldecke nicht vergessen. Diese hässliche Wolldecke. Früher hätte sie nie so eine Wolldecke genommen, aber dieser Winter zwingt selbst sie dazu, und sie zwickt, wenn sie mir immer so an die Seite geschoben wird. Sie beißt sich mit dem Blau meiner Sitzschale. Aber ich habe hier ja nichts zu sagen.
Die Leiden eines Rollstuhls
Wir stehen am Fahrstuhl. Wahrscheinlich hat er auch keine Lust auf die Kälte und den Schnee, der gerade wieder anfängt. "Hoffentlich streikt er nicht schon wieder", sagt Marie zu ihrer Assistentin. Und ich? Ich würde auch gern streiken, aber auf mich hört ja keiner. Ich muss immer funktionieren. Muss Rollsplitt, Hundekot und Schnee oder feuchte Schweißhände ertragen, ohne zu quietschen und zu murren, was ich aber trotzdem häufig mache, um zu zeigen, dass es mich auch noch gibt. Heute ist es eindeutig zu kalt, und jetzt fällt auch noch Schnee auf meinen schönen geputzten Metallrahmen. Neben Marie steht ein Mann, der schwer atmet und sich auf eine Krücke stützt. Hoffentlich kommt er nicht auf die Idee, sich auf Maries Schoß zu setzen, um sich auszuruhen. Für so viel Gewicht bin ich nicht gebaut.
Ich brauche keine Accessoires
Der Mann fragt Marie oder eigentlich ihre Assistentin: "Ihr ist doch sicher kalt bei dem Wetter. Ist es da nicht besser, wenn sie zu Hause bleibt?" "Und ob", will ich rufen, kann aber noch nicht einmal quietschen, weil ich nicht bewegt werde. Marie entgegnet wieder irgendeinen Spruch, den er nicht verstehen kann oder will, und der Mann untersucht ihre Füße und die hässliche Wolldecke. Ich habe doch gesagt, dass diese Farbe mehr als eine Krankheit ist, will ich schon wieder rufen, aber der Mann kommt mir zuvor. "Es gibt auch Fußsäcke in vielen bunten Farben, dann ist alles ganz schön warm und trocken", sagt der Mann und stützt sich mühsam auf seine Krücke. Zum Glück hat Marie den Fußsäcken abgeschworen. Der Mann vor uns hat, weil der Fahrstuhl immer noch nicht kommt, noch eine Idee. "Es gibt auch so kleine Heizkissen", sagt er "die muss man erwärmen und sie in den Rollstuhl legen. Dann ist es immer schön warm, wie in einer Sauna."
Oh nein! Ich sehe schon meinen schönen blauen Bezug verbrennen. Langsam zusammenschmelzen! Nein, nein, nein! An mich kommt nichts Warmes heran. Dann doch lieber die Wolldecke, die ist wenigstens nicht so gefährlich. Auch wenn sie neulich an meinen Rädern hängengeblieben ist und mich und Marie fast zu Fall gebracht hat. Leider muss ich Ihnen die Antwort von Marie auf seinen Vorschlag vorenthalten. Die Vorstellung von Hitze, die sich unkontrolliert in mir ausbreitet, macht mich ganz verrückt.
Lochangst oder die mobile Sauna
Ich und Marie haben von Natur aus eine unglaublich enge und körperliche Beziehung. Im Sommer merke ich das besonders. Kleine oder größere Schweißperlen saugen sich dann in den Bezug meiner Sitzschale. Und auch dann ziehen Marie und ich Menschen an, die ihr merkwürdige Tipps geben und mir Todesangst machen.
Die Frau mit der Schere
Eine Frau kam aus der Bank. Sie stellte sich vor uns, stemmte die Hände in die Seiten und sagte: "Luftlöcher. Da müssen Luftlöcher rein. Oder ein Ventilator. Man muss auf jeden Fall Löcher reinmachen." Sie zeigte mit ihrem spitzen Finger auf meine Polster und plötzlich hatte ich das Gefühl, ihr Finger würde sich in eine Schere verwandeln. Mir wurde schwarz und sehr heiß, und schon wieder kann ich ihnen nicht sagen, wie diese Geschichte ausging, denn auch ein Rollstuhl verliert in solchen Situationen kurz die Besinnung.
Sogar jetzt, wegen der bloßen Erinnerung an diesen letzten Sommer wird mir warm, und der Schnee um mich herum ist vergessen. "Mir ist kalt", sagt Marie, und der Mann, der immer noch neben uns steht, sagt zu ihrer Assistentin. "Ich habe Ihnen doch gesagt, es ist zu kalt für sie."
Endlich kommt der Fahrstuhl. Wir steigen ein, und ich überlege, wann ich mich das letzte Mal so richtig wohlgefühlt habe (abgesehen von letzter Woche, als meine Polster gereinigt wurden). Ja richtig, das war auf unserem Städtetrip nach Barcelona. Ich muss Marie dringend dazu bringen, nach Barcelona zu verreisen. Vielleicht sollte ich morgen einfach Luft verlieren, oder gleich ein Rad. Aber vielleicht nimmt sie dann einen Kollegen mit auf Reisen. Also tapfer durchhalten und weitermachen.
Vielleicht ist es ganz gut, dass Rollstühle nicht sprechen können und dass dieser Einblick nur ein Text bleibt. Denn jetzt muss ich los, und gerade hat es angefangen zu regnen. Es tut mir leid, lieber Rolli. Es tut mir wirklich leid!
Linktipps:
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(Autor: Marie Gronwald)