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Promovieren mit Behinderung

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Zwei Frauen in weißer Schutzkleidung im Labor, eine sieht in ein Mikroskop.

"InWi" - ein Promotionsprogramm für Wissenschaftler mit Behinderung

Ob jemand das Zeug zur Promotion hat, hat mit einer Behinderung erst mal nichts zu tun. Aber ob jemand die Doktorarbeit dann tatsächlich schafft - das kann durchaus an der Behinderung hängen. Veronika Kraaz hat es selbst erlebt: Die Diplom-Biologin, die von Geburt an gehörlos ist, allerdings durch ihre Eltern lautsprachlich gefördert wurde und Cochlea-Implantate trägt, war nach ihrem ersten, gescheiterten Promotionsversuch um ein paar Erfahrungen reicher. Sie wusste nun zum Beispiel, dass Forschungsprojekte, bei denen die Fluoreszenz-Mikroskopie wichtig ist, für sie unpassend sind - weil sie im abgedunkelten Raum das Mundbild des Kommunikationspartners nicht sehen kann. Und dass ein wissenschaftliches Team, in dem hauptsächlich Englisch gesprochen wird, zu anstrengend ist - weil sie zu viel Konzentration auf das Verstehen des Gesagten aufwenden muss und dann das Verstandene auch noch verstehen muss.

Inklusion in der Wissenschaft

Kraaz nahm einen zweiten Anlauf, bewarb sich - und promoviert mittlerweile am Fachbereich Biologie/Chemie der Uni Bremen auf dem Gebiet der Glycobiochemie. Dass nun alles mehr oder weniger rund läuft, hat auch mit InWi zu tun. InWi, das steht für "Inklusion in der Wissenschaft" und ist ein Programm der Uni Bremen, das zehn Nachwuchswissenschaftler mit Behinderung bei der Promotion unterstützt. Für drei Jahre erhalten die fünf Frauen und fünf Männer aus allen Fachrichtungen und mit unterschiedlichen Behinderungen (chronische Krankheiten, Sprach- oder Hörbehinderung, körperliche Behinderung) eine feste Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiter - dazu gehören neben Zeit für die Forschung auch Aufgaben in der Lehre. Die ersten Doktoranden starteten im November 2011, die letzte Stelle wurde im Juli 2012 besetzt. Finanziert werden die Promotionsstellen zu 70 Prozent von der Bundesagentur für Arbeit und dem Bremer Integrationsamt.

Oberste Priorität: Wissen, Erfahrung und Ausbildung

Ein weiterer wichtiger Kooperationspartner ist die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn. Die nämlich sprach gezielt Kandidaten an - so dass bei ihr umgehend 40 Bewerbungen aus ganz Deutschland eingingen, die an die Fachbereiche der Uni Bremen weiter geleitet wurden. Oberstes Kriterium bei der Auswahl, so berichtet Projekt-Sprecherin Tina Hoffmann, waren "das Wissen, die Erfahrung und die Ausbildung des Bewerbers". In einem zweiten Schritt stellte sich jeder Fachbereich die Frage: "Was bedeutet die Behinderung für die Kollegen und den Arbeitsplatz - welche Unterstützung braucht der neue Kollege also, und können wir diese gewährleisten?"

Technik ist nicht alles

Auch Veronika Kraaz' Chef, Prof. Dr. Sørge Kelm, hatte sich mit seiner Arbeitsgruppe beraten, ob sich die Wissenschaftler eine Zusammenarbeit mit Kraaz vorstellen können. Und er hatte überlegt, welchen Beitrag sie zur Lehre leisten kann. "Ein englischsprachiges Laborpraktikum mit vielen Studenten hätte nicht funktioniert", gibt Kraaz ein extremes Beispiel - aber die individuelle Betreuung einer Master-Studentin ist für sie gut machbar. Gebärdensprachdolmetscher benötigt Kraaz ohnehin nicht, und bei Laborbesprechungen nutzt sie eine FM-Anlage, also einen Empfänger am Ohr, der mit einem Sender beim Sprecher verbunden ist. Bei englischsprachigen Vorträgen oder Konferenzen kommt ein Schreibdolmetschdienst über das Internet zum Einsatz, den sie aus ihrem Deputat bezahlt. Denn spezielle PC-Software, Stühle und Tisch sowie Assistenzen werden vom Integrationsamt Bremen, von der Arbeitsagentur oder dem Jobcenter finanziert.
Aber Technik ist nicht alles. Auch Rücksichtnahme macht den Arbeitsalltag für die Doktoranden mit Behinderung leichter. "Wir achten auf eine ruhige Umgebung, wenn wichtige Sachverhalte besprochen werden müssen. Außerdem redet immer nur eine Person - und das trägt durchaus zur Entspannung aller Beteiligten bei", erzählt Veronika Kraaz.


Mehr zum Thema:
Informationen der Uni Bremen zum InWi-Modellprojekt
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Behinderung und Studium
Die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des Deutschen Studentenwerks
Mehr zum Thema Studium und Behinderung beim Familienratgeber
Studieren als Blinder: Das Unausgesprochene aussprechen. Ein Blogbeitrag von Heiko Kunert über sein Studium an einer Massen-Uni
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(Autor: Eva Keller)


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